Selbstmord nach Mobbing? Selbstmord nach Mobbing? Trauer und Wut in Wittenberg nach Tod von Niklas
Wittenberg - Es ist noch dunkel als der Zug anrollt. Es ist kalt, aber klar. Dieser November-Montag in Wittenberg wird der letzte für Niklas sein. Während die erste Stunde in seiner Schule auf der anderen Seite der Stadt begonnen hat, geht ein Notruf bei der Bundespolizei ein. Eine Lok hat den dreizehnjährigen Jungen erfasst und getötet. Die Bahnstrecke in Richtung Dessau wird für zwei Stunden gesperrt. Dann verraten nur noch ein paar weggeworfene Einmalhandschuhe und Kreidemarkierungen, wo ein Kind sein Leben ließ. Ein Fremdverschulden schließt die Polizei relativ schnell aus, konkreter will die Behörde noch nicht werden.
Selbstmord vermutet
Wochen später erscheint ein Video von Niklas’ Tante bei Facebook. Sie ist überzeugt davon, dass sich ihr Neffe umgebracht hat. „Im August kam er zu mir und meinte: Tante ich werde gemobbt“, sagt sie darin. Sie habe zur Schule gehen wollen um dort mit den Lehrern zu sprechen, habe sich aber von Niklas davon abbringen lassen. „Tante, wie sieht das aus, wenn du als Mädchen kommst?“, habe ihr Neffe gesagt. Er habe Angst gehabt, dass es dadurch nur schlimmer würde. „Jetzt ist es zu spät“, sagt sie in die Kamera und weint.
Anti-Mobbing-Aktivist Carsten Stahl habe sich auf ihr Bitten der Sache angenommen. Der solle nun für Gerechtigkeit sorgen. Weil die Schule zu wenig unternommen habe, sei ihrem Neffen nicht rechtzeitig geholfen worden, sagt sie.
Stahl, 47 Jahre alt, Kampfsportler aus Berlin, gab jahrelang den Hauptdarsteller in der RTL-II-Pseudo-Doku-Serie „Privatdetektive im Einsatz“. Danach engagierte er sich vermehrt gegen Mobbing, gründete den bundesweit agierenden Verein „Camp Stahl“ und tritt heute als Gewaltpräventionstrainer an Schulen sowie in der RLT-II-Serie „Stahl: hart gegen Mobbing“ auf.
Millionen schauen zu
Er sorgte dafür, dass der Fall Niklas einem Millionenpublikum bekannt wurde. 2,1 Millionen Interaktionen habe es allein mit einem einzelnen Post über Niklas Schicksal gegeben, schreibt er auf Facebook. Ähnliche Klickzahlen erreichen auch die Videos und Texte, die Stahl in den folgenden Tagen veröffentlicht. Anfang Dezember besucht er schließlich die Beerdigung von Niklas auf einem Wittenberger Friedhof, filmt sich mit den Trauergästen, den Eltern, der Tante. Reporter von RTL begleiteten ihn.
Im Fall von Niklas, so schildert es Stahl, der sich mit der Familie unterhalten hat, habe es sowohl Beleidigungen als auch körperliche Beeinträchtigungen gegeben. Was genau ihm geschehen ist, bleibt unklar. Mutter und Tante wollen nicht mit Reportern sprechen und verweisen auf den Anti-Mobbing-Trainer, der sich als eine Art Mediensprecher angeboten habe. Als ruhiger, schüchterner Junge sei Stahl der Junge Niklas beschrieben worden. Als einer, der etwas zerbrechlich, fast feminin wirkte und deswegen ein leichtes Ziel für die vermeintlich Stärkeren abgab.
„Alle Beerdigungen, die ich in den letzten Jahren besucht habe, hatten eins gemeinsam“, sagt Stahl. „Die Eltern haben gesagt: Ich habe nichts gemerkt.“ Schuld sei oft die Scham der Opfer, sich mit ihrem Problem an Dritte zu wenden.
Stahl geht in seinen Videos mit Schule und Politik hart ins Gericht. Dort habe man versucht, das Mobbing totzuschweigen, den Schülern einen Maulkorb verpasst, ihm – als Aufklärer der Missstände - gar ein Hausverbot in der Schule auferlegt. Stahl aber wolle sich das nicht gefallen lassen. Den Vorwürfen in Sachen „Maulkorb“ widerspricht die Schule übrigens. Man habe keinerlei Hausverbote erteilt, die Schüler lediglich daran erinnert, dass Reporter und andere fremde Personen die Einwilligung der Eltern benötigten, bevor sie sie vor einer Kamera befragten.
Stahls laut und zornig vorgetragene Kritik stößt im Netz auf viel Zustimmung, aber auch auf Skepsis: „Alles andere als pietätvoll“ und „völlig überzogen“ wegen der „aggressiven Agitation“, kommentiert etwa eine Nutzerin unter einem Video, in dem Stahl mit der Tante von Niklas auf dem Friedhof spricht. So sei es zu kurz gesprungen, die Schuld für Niklas Tod nur bei der Schule zu suchen und nicht auch in seinem privaten Umfeld.
Die Sekundarschule Friedrichstadt im Wittenberger Osten wünscht sich vor allem Ruhe für ihre Schüler. Es ist bereits der zweite Trauerfall unter der Schülerschaft in diesem Jahr. In der Silvesternacht war eine Schülerin bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen.
„Mobbing ist eines der vielen Themen, die Schüler beschäftigen“, sagt Schulleiterin Ines Petermann. Und keines, das die Schule ignoriere. So gebe es drei Sozialarbeiter an der Schule, die derzeit etwa 560 Schüler hat. Klassen würden nicht einfach zusammengewürfelt, sondern erst nach einer Kennenlernphase behutsam gebildet. Hinzu kämen diverse Projekttage, externe Trainer, die sich mit vielen verschiedenen Themen wie Drogenmissbrauch oder Gewaltprävention auseinandersetzten.
Dass Niklas Mobbing erfahren haben soll, sei weder der Schulleitung noch den Sozialarbeitern aufgefallen. „Wir sind immer offen für Gespräche“, sagt Petermann. Doch wenn sich die Kinder nicht öffneten und auch die Eltern nichts bemerkten oder damit nicht an die Schule heranträten, blieben solche Fälle leider manchmal unbemerkt. „Wir hatten regelmäßig Kontakt mit seinen Verwandten. Niemand sagte uns, dass Niklas sich hier nicht wohlfühlte“, sagt sie.
Treffen mit Minister
In der letzten Woche traf sich Aktivist Stahl dann mit Bildungsminister Marco Tullner (CDU). Es sei ein gutes Gespräch gewesen, kommentiert Stahl das Treffen im Anschluss. „Schulleiter haben oft Angst, dass ihre Schulen als Problemschulen dargestellt werden und dass sie selbst als unfähig gelten könnten“, sagt er. Daher würde oft zu wenig gegen Mobbing unternommen, Förderungen für Prävention gar nicht erst abgerufen. „Ich bin kein Feind der Politik, ich will nur, dass Mobbing zum Thema gemacht wird, damit etwas passiert“, sagt Stahl.
Zu seinen nicht gerade vorsichtig vorgetragenen Kritiken meint er, man müsse eben auch polarisieren, um etwas zu erreichen. Da wolle er auch vor einem Bildungsminister nicht Halt machen. „Der Ruf der Schule darf nicht im Fokus stehen, sondern das Problem Mobbing.“
Im Ministerium teilt man die Aussagen Stahls nicht völlig. Präventionsprogramme gegen Mobbing seien seit Jahren installiert, auch an der betroffenen Schule gebe es Schulungen. Das Land bilde zudem Lehrer aus, um Mobbing entgegenzuwirken. Dennoch wolle man nun keinesfalls einfach zum Tagesgeschäft übergehen. „Wir gehen jedem Hinweis nach und schauen, ob an der Schule Dinge verbessert werden können“, sagte Ministeriumssprecher Stefan Thurmann.
Am Dienstag letzter Woche trauerten Niklas’ Mitschüler. Nicht auf dem Friedhof, sondern an der Elbe. „An einem Fluss kann man gut Abschied nehmen“, sagt Schulleiterin Petermann. Die Jugendlichen warfen Blüten in das graue Wasser. Keine Kamera filmte mit.
Woran erkenne ich, ob mein Kind gemobbt wird?
Hinsehen, nachfragen, handeln. So lautet ein Rat, wenn es um Mobbing geht. Dies erklärt Joachim Perlberg, leitender Oberarzt der Tageskliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wittenberg und Dessau. Priorität sei, niemanden in eine „Schuld“ zu schicken, sondern explizit zu ermutigen, die Situation konsequent aus Sicht der Kinder zu sehen. Und zwar nicht nur aus der Perspektive der Opfer, sondern auch aus Sicht der mobbenden Kinder, also der „Bullys“. Im Übrigen dürfe nicht der Fehler gemacht werden, jemand wüsste immer ganz genau, wie es geht. „Das ist nicht unser Ansatz, denn jeder Einzelfall ist diffizil und kann zu Recht von verschiedenen Seiten betrachtet werden.“ Schlimm werde es nur, „wenn das Interesse an teils gravierenden Vorfällen fehlt oder sich Ignoranz und Resignation ausbreiten“. Auf die Frage, ob es ein typisches Verhalten bei Mobbing-Opfern gibt, das Außenstehenden Hinweise geben könnte, sagt der Experte: „Es reicht von Aggressivität bis zur Verzweiflung.“ Die Bandbreite sei groß. In der Schule kann es zum Leistungsabfall kommen. Viele der Betroffenen schlafen zudem schlecht und haben Alpträume.
Informationen zum Thema sind bei www.schueler-gegen-mobbing.de und www.schueler-mobbing.de auch online abrufbar.
››Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800/1110111 oder 0800/1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus scheinbar aussichtslosen Situationen aufzeigen konnten. (mz)