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Schicksal aus Radis Schicksal aus Radis: Junge Frau mit Behinderung kämpft um ihre Rechte

Von Ute Otto 20.10.2015, 06:56
Susanne Reintzsch und Mutter Maria Reintzsch kämpfen gemeinsam und möchten doch einander auch mal loslassen können.
Susanne Reintzsch und Mutter Maria Reintzsch kämpfen gemeinsam und möchten doch einander auch mal loslassen können. Thomas Klitzsch Lizenz

Radis - Gerade hat der Postbote einen großen Brief gebracht. Susanne Reintzsch muss ihn nicht öffnen, um zu wissen, was in dem braunen Umschlag steckt: Ihre Bewerbungsunterlagen als Mitarbeiterin am Empfang eines Wittenberger Museums. Die Absage ist knapp gehalten, ohne weitere Begründung.

„Behinderte werden bei gleicher Eignung bevorzugt.“ Die 25-Jährige weiß, dass der Satz bei Stellenausschreibungen öffentlicher Institutionen obligatorisch ist, dennoch enttäuscht sie, dass er auch für die Personalchefs nur eine Floskel darzustellen scheint. „Sie geben mir ja nicht einmal die Chance, mich vorzustellen“, sagt die Radiserin. „Wie wollen sie dann meine Eignung einschätzen?“

„Wir sprechen vom Arbeitgebermodell“, erklärt Ute Eckelmann, Geschäftsführerin des Behindertenverbandes Wittenberg, das Persönliche Budget. Die Kostenträger, das sind Sozialkassen, Sozialämter wie auch Jobcenter (für Arbeitsassistenz) stellen trägerübergreifend eine bestimmte Summe zur Verfügung, von der sich behinderte oder chronisch kranke Menschen Dienstleistungen einkaufen und Unterstützung zur Teilhabe in Anspruch nehmen können. Mit dem Budget können die Menschen einen oder mehrere Assistenten einstellen, die sie entsprechend ihrem Bedarf begleiten. Das müssen keine Pflegefachkräfte sein.

„Herzensbildung“ nennt Susanne Reintzsch als eine wichtige Voraussetzung. „Es wird den Betroffenen sehr schwer gemacht“, zum Persönlichen Budget zu kommen, so die Erfahrung von Ute Eckel- mann. „Oft schaffen sie es nur über lange Klagewege.“ Die Ursache sieht sie darin, dass die Bewilligungsbehörden, in Sachsen-Anhalt ist das die Sozialagentur, nur den Kostenaspekt sehen, nicht aber den Menschen mit seinen speziellen Bedürfnissen. „Und es wird ganz außer Acht gelassen, dass die Assistenz auch einen Arbeitsmarkt darstellt, dessen Nutzung die Sozialkassen wiederum entlastet.“

Bei der Geburt von Susanne Reintzsch war etwas schief gegangen, es kam zum Sauerstoffmangel. Als Baby habe sie sich kaum bewegt, erzählt Mutter Maria Reintzsch. Susanne kann nicht laufen und ist auf den Rollstuhl angewiesen, ihre Bewegungen sind etwas verlangsamt, aber ihr Intellekt ist völlig in Ordnung. Sie hat Realschulabschluss und eine Berufsausbildung als Bürokraft, die sie in Potsdam beim Berufsbildungswerk absolvierte.

Mit 2,0 hat sie die Ausbildung 2011 abgeschlossen. Seither ist sie händeringend auf Jobsuche. Das Reha-Team der Agentur für Arbeit habe ihr schon nicht helfen können, auch wenn ihr Berater dort sehr bemüht war. Im Jobcenter, wo sie seit ihrem 25. Geburtstag Kundin ist, sei das anders. Allein acht Monate habe es gedauert, ehe sie dort überhaupt einen Termin bekam. Sie sei dann empfangen worden mit der niederschmetternden Bemerkung: „Sie bekommen sowieso nichts.“ Sie hat zwischendurch Praktika gemacht, einen Englisch-Kurs belegt, denn die Sprache liege ihr, im Gegensatz zu Zahlen. „Sie hat Probleme mit Relationen“, erklärt Maria Reintzsch. Der Griff nach dem Strohhalm, eine neue Ausbildung zur Finanzbuchhalterin, erwies sich daher als Fehlgriff. Sie scheiterte. Aber am Museumsempfang zu arbeiten, das traue sie sich zu, sagt Susanne Reintzsch. Zumal dort jetzt alles barrierefrei sei. „Aber das hat sich ja nun“, legt sie den Umschlag beiseite. Was die Jobsuche betrifft, sei sie nach rund 140 vergeblichen Bewerbungen nah am Aufgeben, gesteht sie.

Jobcenter übernimmt Kosten für barrierefreies Wohnen nicht

„Aber das dauert nicht lange, und dann kreiseln meine Gedanken wieder herum um die Frage, wofür hast du dich denn immer angestrengt? Und dann suche ich wieder im Internet nach allen möglichen Stellenangeboten.“ Doch brauche sie jetzt auch alle Kraft für einen weiteren Kampf: Die junge Frau will in eine eigene Wohnung ziehen. Sie möchte das „Persönliche Budget“ in Anspruch nehmen, um eine Assistenz zu bezahlen. Laut einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MdK) stehe ihr diese rund um die Uhr zu. Der im April gestellte Antrag auf Übernahme der Wohnkosten für die barrierefreie Wohnung im neuen Wiwog-Wohnpark in Wittenberg-West - „ein Zauberwerk“, wie Susanne Reintzsch schwärmt - wurde vom Jobcenter abgelehnt. 80 Quadratmeter seien zu viel. Man habe übersehen, dass sie Rollstuhlfahrerin ist und diesen Platz braucht, obwohl sie den Antrag persönlich abgegeben und die Größe auch damit begründet hatte, dass die Assistenz ebenfalls ein Zimmer braucht.

Die junge Frau legt Widerspruch ein und nimmt sich anwaltlichen Beistand. Anfang Oktober gibt es „ein klärendes Gespräch“ im Sozialamt im Beisein der Anwältin, es wird erreicht, dass bei der Bemessung der Wohnraumgröße für die Behinderte die Bundeswohngeldtabelle zur Anwendung kommt. Aber es ist zu spät. „Die Wohnung ist weg“, sagt Susanne Reintzsch, und es steigen ihr Tränen in die Augen, zum wiederholten Mal während dieses Gesprächs mit der MZ. Dabei hatte die Wiwog Wittenberg, über deren Entgegenkommen Tochter und Mutter Reintzsch dankbar erzählen, die Wohnung längstmöglich für sie reserviert. Das Problem ist: Wohnung, Persönliches Budget und Assistenz sind drei Komponenten, die nahtlos ineinander greifen müssen. Ohne das eine funktioniert das andere nicht. Auch das persönliche Budget hat sie im Juli schon im Sozialamt beantragt. Sie wisse nicht ob sie das so schnell bearbeiten könne, habe die Mitarbeiterin gesagt, als sie erzählten, warum es drängt.

„Von Hilfe und Unterstützung durch die Ämter sind wir so weit entfernt wie Radis vom Mond“, sagt Maria Reintzsch verbittert. 25 Jahre ist die Tochter nun, fast jeder Tag sei seither ein Kampf um ihr Wohlbefinden, ihre Rechte. Das fing im Säuglingsalter an, zog sich durch Kindergarten und Schule. „Wir haben beide kein eigenes Leben“, sagt die Mutter, von Beruf Lehrerin. Was sie machen werde, wenn Susanne tatsächlich aus dem Haus gehen kann? „Ich weiß es noch nicht“, sagt Maria Reintzsch und packt einen dicken Wälzer - das Sozialgesetzbuch - und einen Stapel Fachzeitschriften zum Behindertenrecht auf den Tisch. „Vielleicht kann ich dann auch mal etwas anderes lesen als nur das hier“, sagt sie. (mz)