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Pogromnacht  Pogromnacht : Ächtung und Entrechtung

Von Marcel Duclaud 05.11.2019, 16:45
Die Gruppe vor Markt 14: Dort lebte einst Isidor Preminger, Jahrgang 1885. Er wurde 1933 nach Polen ausgewiesen und 1941 ermordet.
Die Gruppe vor Markt 14: Dort lebte einst Isidor Preminger, Jahrgang 1885. Er wurde 1933 nach Polen ausgewiesen und 1941 ermordet. Thomas Klitzsch

Wittenberg - Aufklären, über jüdisches Leben und die jahrhundertelange Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens sprechen, möglichst konkret, das sei wichtig, betont Christel Panzig vom Haus der Geschichte in Wittenberg. Gerade „im Lichte der Ereignisse von Halle“, des Anschlags auf die Synagoge dort. Es müsse darum gehen, ein Zeichen gegen Ausgrenzung und Nationalismus zu setzen.

Nicht zuletzt deshalb hatte im Vorfeld des Pogromgedenkens am Samstag das Haus der Geschichte am Montag zu einem Seminar und dem Besuch mehrerer Stolpersteine in Wittenberg eingeladen: „Für das Erinnern an jüdische Mitbürger - gegen das Vergessen“.

Markus Richter, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Haus der Geschichte, der das Seminar leitete, hat, um (unfassbare) Historie fassbar zu machen, mit Dokumenten und Zeitzeugenberichten gearbeitet. Anhand derer sollte erfahrbar gemacht werden, wie die Entmenschlichung von Mitbürgern in Wittenberg, wie Ächtung, Entrechtung und Verfolgung bis hin zum „industriellen Massenmord“ abliefen.

Die Teilnehmer, überwiegend Bundesfreiwillige des Hauses der Geschichte, bekamen etwa Zeitungsausschnitte in die Hand, die große Geschichte im Kleinen nachzeichnen. Da ging es um den Boykott von Geschäften, um ein Haustierverbot, die Aufforderung, elektrische Geräte abzuliefern, um die Konzentration in „Judenhäusern“, um Denunziation und Reden von Bürgermeister Faber, der vom „Zersetzen volksfremden Judentums“ fabulierte, der Juden „ehrlos, gemein und schamlos“ nannte.

Berichtet wird nicht zuletzt über das Pogrom 1938, das übrigens hier laut Richter einen Tag später stattfand. Wittenberger SA-Gruppen sollen damals in Jessen, Jessener SA-Gruppen in Wittenberg gewütet haben - wohl, um auszuschließen, dass persönliches Kennen für Hemmungen beim Plündern und Brandschatzen sorgt. Für die Schäden mussten die Opfer aufkommen.

Die Hetze, erklärt Richter, blieb konstant. Was hinzukam, war Entrechtung, schrittweise. Juden durften keine Beamten werden, keine Journalisten, Ärzte verloren die Kassenzulassung, Anwälte die Approbation, Kinder wurden aus dem Schulbetrieb ausgeschlossen, der Staat verbot Ehen mit Juden.

Nach den Pogromen am 9. November brachen laut Richter alle Dämme, der Gewalt sei Tür und Tor geöffnet gewesen, jeder „scheinlegale Anstrich“ wurde fallen gelassen. In den 1930er Jahren haben nach den Worten von Markus Richter knapp 80 Juden in Wittenberg gelebt, von denen man wisse. Zum Beispiel die Gebrüder Wiener, Eugen Fuhrmann, Richard Hirschfeld, Jakob Israel. Einigen gelang die Ausreise, manche begingen Selbstmord, viele kamen in Konzentrationslagern ums Leben.

„Es gab in Wittenberg mal jüdisches Leben“, sagt Christel Panzig, ein wenig davon sei mit den Russlanddeutschen zurückgekehrt. Die Historikerin mahnt, das Wissen um die Geschichte zu verinnerlichen und weiterzugeben: „Wir müssen aufpassen, dass so etwas nicht noch einmal geschieht.“

Zuvor hatte Markus Richter über die Jahrhunderte vor dem Holocaust gesprochen. Darüber, dass Spuren jüdischen Lebens bis zur Stadtgründung zurückreichen und davon, dass die erste Vertreibung bereits 1304 stattfand. Mit dem Aufbau der Universität wuchs die Zahl jüdischer Menschen, sie reduzierte sich mit dem 1536 erlassenen Durchzugs- und Niederlassungsverbot. Mehr Freizügigkeit und Rechte kamen erst im 19. Jahrhundert mit den Preußen.

Dass Juden oft „sprechende Namen“ tragen, wie etwa Einstein, Lilienthal oder Zuckerberg hat laut Richter übrigens damit zu tun, dass sie, als sie tatsächlich Staatsbürger werden durften, sich ziemlich schnell Nachnamen ausdenken mussten, die es zuvor oft nicht gab. (mz)