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Panorama in Wittenberg Panorama in Wittenberg: Die Banalität des Augenblicks

Von Sven Gückel 04.04.2016, 17:04
Yadegar Asisi
Yadegar Asisi Gückel

Wittenberg/Berlin - Das alte Rom, der Everest, die Völkerschlacht vor Leipzig, das barocke Dresden oder das Great Barrier Reef - all diese Orte oder Momente lassen sich noch immer hautnah erleben. Zu verdanken ist das Yadegar Asisi. Der 1955 in Wien geborene, in Mitteldeutschland aufgewachsene und heute in Berlin lebende Künstler fertigt die weltgrößten 360°-Panoramen. Eines seiner aktuellen Projekte heißt „Luther 2017“ und wird ab Oktober 2016 in Wittenberg zu sehen sein. Sven Gückel traf Yadegar Asisi in dessen Berliner Büro.

Herr Asisi, Sie haben Ihre Kindheit in Halle und Leipzig verlebt. Was verbindet Sie heute mit der Region Mitteldeutschland?

Asisi: Halle, Leipzig und Dresden sind Städte, die mich geprägt haben. Ich hatte eine schöne Kindheit. Wäre sie anders verlaufen, wäre ich sicher auch ein anderer Mensch geworden. Beim Gedanken an diese Zeit spüre ich noch immer das feste Gefüge des Zusammenhalts, das die Menschen umgab. Mitteldeutschland ist ein wichtiger Teil meiner Vergangenheit. Deshalb fühle ich mich diesem Landstrich bis heute eng verbunden.

Luther hat von Mitteldeutschland aus die Welt verändert. Wie stehen Sie zu ihm?

Asisi: Obwohl ich kein gläubiger Mensch bin, fasziniert mich Martin Luther. Sein Mut wirkt bis heute nach. Das größte Gut unserer Gesellschaft, die Selbstbestimmtheit der Menschen, haben wir auch Luther zu verdanken. Was mir darüber hinaus an ihm gefällt, ist, dass er auf Fragen des Lebens und Glaubens nur selten direkte Lösungen vorgibt. Statt dessen lässt er die Antworten vielmals offen. Er regt uns zum Denken an, fordert unseren Geist.

Eines Ihrer aktuellen Projekte heißt „Luther 2017“ und soll im Oktober dieses Jahres in Wittenberg eröffnet werden. Was genau dürfen die Betrachter im eigens dafür errichteten Panorama erwarten?

Asisi: Zunächst einmal, es wird und kann kein Abbild der damaligen Zeit sein. Da es keine Fotos aus dieser Epoche gibt, sind solche Blicke in die Geschichte rein subjektiv. Wichtig ist mir daher ein anderer Aspekt. Ich möchte auf die Banalität des Augenblicks aufmerksam machen. Während Luther seine Thesen anbrachte, dachte er wohl kaum daran, eine Revolution auszurufen. Das genau empfinde ich als vordringliche Aufgabe des Panoramas. Wobei mir bei der Bildgestaltung der Thesenanschlag weniger interessant erscheint als etwa Luther im Gespräch mit seinen Studenten. Doch ich möchte auch, dass die Betrachter darüber nachdenken, wie die Menschen damals Glück empfanden oder was es für sie bedeutete, in Armut zu leben.

Gibt es von der Stadt Wittenberg oder der evangelischen Kirche Vorgaben, die Sie umsetzen sollen?

Asisi: Nein. Bei meiner Arbeit lasse ich mir interpretatorisch nicht reinreden. Wenn ich mich zur Umsetzung eines Projektes entscheide, dann weil mich dieses Thema fasziniert. Geld kann mich dabei nicht überzeugen. Ich bin überaus dankbar, diese Arbeit machen zu dürfen. Mitunter wache ich auf in Gedanken der Demut, künstlerisch tätig zu sein.

Es heißt, Sie vernichten Ihre Arbeiten wieder, wenn die Ausstellungen abgebaut sind.

Asisi: Das stimmt. Statt sie einzulagern, werden die Bilder verbrannt. Sollte sich später jemand dazu entschließen, dieses oder jenes Projekt noch einmal zeigen zu wollen, dann werden die Planen neu gedruckt. Mein Motto ist: Baut mir die Kinos, dann bring ich die Filme! Was Luther 2017 betrifft, so wünsche ich mir allerdings eine gewisse Nachhaltigkeit. Schön wäre es, wenn dieses Panorama ein Teil der Identität von Wittenberg wird.

Aber hat man als Künstler nicht immer das Bestreben, der Welt etwas hinterlassen zu wollen?

Asisi: Mir ist viel wichtiger, dass meine Projekte in den Köpfen der Menschen Gedanken auslösen. Wer eine der Ausstellungen verlässt, sollte nicht mit Antworten überfrachtet sein, sondern Fragen stellen. Als Michelle Obama sich das Panorama „Die Mauer“ am Berliner Checkpoint Charlie angesehen hatte, sagte sie anschließend zu mir: Jetzt kann ich Fragen stellen, von denen ich vorher nicht wusste, dass ich sie stellen würde. Ich möchte ein kleines Sandkorn sein, das der menschlichen Gesellschaft beim Weitergehen hilft. Wenn Menschen meine Bilder betrachten und danach glücklich sind, bin ich es auch.

Haben Sie eine persönliche Maßgabe für Ihre Arbeit?

Asisi: Mein Ziel ist es, den Besuchern keine Antworten vorzugeben, sondern ihnen Denkräume zu schaffen. Für jemanden Gedanken zu formulieren, ist das eine. Etwas anderes ist es, ihm einen Weg zu zeigen, die Gedanken selbst zu formulieren. Vielleicht ist das mein Beitrag für das meiner Meinung nach wichtigste Ziel der Erziehung: die Persönlichkeitsbildung.

Zurück zu Wittenberg, wie gehen Sie ein solches Vorhaben an?

Asisi: In diesem speziellen Fall haben wir, damit schließe ich das gesamte Team ein, unter anderem alte Stadtpläne und Unterlagen des Stadtarchivs studiert. Aber wichtiger als die Stadtkulisse ist die Ambivalenz der Figur Luther. Ich möchte ein Gefühl der damaligen Zeit vermitteln. Warum hat sein Thesenanschlag solch eine Welle ausgelöst. Ich lasse mir aber auch Spielräume offen. Münzer, der Bauernkrieg, der Ablasshandel, Prostitution - es gibt viele Aspekte, die man bei diesem Thema beleuchten kann. Das Bild muss „saftig“ sein, wenn es etwas vermitteln soll. Im Übrigen lese ich im Vorfeld einer neuen Arbeit fast nichts zu dem Thema. Ich setze viel lieber auf eigene Eindrücke.

Sie haben bereits zahlreiche Panoramabilder erstellt. Demnächst eröffnen Sie Ihr erstes in Frankreich mit dem Titel „Rouen 1431 - Die Epoche der Jeanne d’Arc“. Ab Januar 2017 gibt es im ehemaligen Gasometer Leipzig die „Titanic“ zu sehen. Gibt es ein Projekt, das Sie noch besonders reizt?

Asisi: Allein in diesem Jahr arbeiten wir an mehreren unterschiedlichen Projekten. Mit meinen Mitarbeitern habe ich unlängst darüber gesprochen, was die nächsten zehn Jahre mit bis zu 17 Projekten für uns bereit halten könnten. Zur echten Herzensangelegenheit ist mir aber ein Buch über das Zeichnen geworden, das ich schreiben möchte. Zeichnen ist eine gesellschaftliche Herausforderung und ein Handwerk, das jeder erlernen kann. Zeichnen sollte viel stärker Teil der Schulbildung sein. (mz)