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"Kyrill" "Kyrill": So wütete der Orkan vor zehn Jahren in der Region

Von Irina Steinmann und Corinna Nitz 18.01.2017, 06:00
Kyrill hat im Januar 2007 in Klein-Wittenberg gewütet. Auf dem Parkplatz des Baumarkts Obi in der Dessauer Straße wurden Dachziegel auf ein Auto geschleudert.
Kyrill hat im Januar 2007 in Klein-Wittenberg gewütet. Auf dem Parkplatz des Baumarkts Obi in der Dessauer Straße wurden Dachziegel auf ein Auto geschleudert. Kuhn/Archiv

Wittenberg - Kyrill ist ein griechischer Vorname - er bedeutet „der Herrliche“. Am 18. Januar 2007 zeigte sich dieser Herrliche in Gestalt eines Orkans von seiner hässlichen Seite. Verwüstungen, Angst und Schrecken hinterließ er in Wittenberg, die Stadt war neben dem Harz die am stärksten betroffene Region in Sachsen-Anhalt und Mitteldeutschland.

Zu den harmloseren Erscheinungen gehörten da noch Äste und Zweige auf manchen Straßen, über die man, ob im Auto oder zu Fuß, nur mühsam vorwärts kam. Oder auch Temperaturstürze in Gebäuden infolge eines Stromausfalls, der zeitweise mehr als 14.000 Haushalte betraf.

Im Dunkeln aus dem Chaos herausgetastet haben sich an jenem Abend Besucher eines Universitätsgottesdienstes in der zum Unesco-Weltkulturerbe gehörenden Schlosskirche. Dort hatte Kyrill zwei Tonnen schwere Fialtürmchen vom Turm gerissen, eines durchschlug einen Firstbalken und riss ein riesiges Loch ins sanierte Dach.

Von Glück im Unglück spricht auch heute noch Hanna Kasparick, die Direktorin des Evangelischen Predigerseminars war damals vor Ort. Das relevante Türmchen, erinnert sie sich, blieb auf einem der vergleichsweise neu eingezogenen Zwischenböden liegen - ohne diese Konstruktion wäre das Gestein in die Orgel gestürzt.

Flucht in die Akademie von Wittenberg

Kasparick kann sich auch an Gesteinsbrocken erinnern, die im Dach der nahe gelegenen Jugendherberge, welche gerade saniert wurde, sowie auf dem Schlossvorplatz und dem Schlosshof eingeschlagen waren.

Über diesen Hof, auf dem sich heute unter anderem mit dem Christine-Bourbeck-Haus das neue Domizil des Predigerseminars befindet, hatten sich die Gottesdienstbesucher zunächst in die benachbarte Evangelische Akademie in der Wallstraße in Sicherheit gebracht. Später sind sie zu ihrem Quartier ins Luther-Hotel gelaufen. Die Schäden allein an der Kirche bezifferte der Landesbaubetrieb Ost damals mit 300.000 Euro.

Ungleich höher waren die Schäden an den öffentlichen Anlagen und eigenen Gebäuden der Lutherstadt: Eine Summe von mehr als 1,2 Millionen Euro nannte der damalige Oberbürgermeister Eckhard Naumann (SPD), als der Staub sich gesenkt hatte. Noch schlimmer hatte es die kommunale Wohnungsgesellschaft erwischt: 2,4 Millionen Euro musste die Wiwog investieren, um Wittenberg-West wieder bewohnbar zu machen.

Dort hatte der Sturm, der ein Orkan war und von manchen sogar Tornado genannt wurde, Dächer abgedeckt und in mehreren Fällen sogar die Dachstühle verschoben, Fenster waren eingedrückt, Fassaden und Balkone beschädigt. Allein 400 Wiwog-Wohnungen waren betroffen, 40 davon derart beschädigt, dass sie vorübergehend nicht bewohnt werden konnten. Die Beseitigung der Schäden dauerte mehrere Monate.

Noch lange verteilte die Wiwog alljährlich am 18. Januar Windbeutel an ihre sämtlich an Leib und Leben unversehrt davongekommenen Mieter. „Lieber einen Windbeutel auf dem Teller als Sturm auf dem Dach“ lautete das trotzige Motto des Großvermieters. Vor zwei Jahren, berichtet Wiwog-Geschäftsführer Rando Gießmann, hätten sie das süße Gedenken allerdings eingestellt, wegen Fluktuation: Für die meisten heutigen Mieter sei Kyrill nur ein Wort, keine eigene Erfahrung.

Mit Kyrill begann auch das neue Leben des nicht nur baulich angegrauten Wohn-Ensembles aus den 1950er Jahren. Wittenbergs oberster Stadtentwickler (und Bürgermeister) Jochen Kirchner jedenfalls widerspricht nicht, wenn man ihm Kyrill als Kollegen zur Seite stellt. „In gewisser Weise stimmt das“, findet Kirchner mit dem Abstand von zehn Jahren. Stadt und Vermieter hätten die Situation als „Chance begriffen“.

Ohne Kyrill, sagt auch Gießmann, hätte der „deutliche Wandel“ von West jedenfalls „nicht in der Schnelligkeit“ stattgefunden. 2009 stand die konkrete Sanierungsperspektive, in den darauffolgenden Jahren wurden die Gebäude sämtlich energetisch saniert. Insgesamt 15 Millionen Euro steckte allein die Wiwog in den zurückliegenden sieben Jahren in die Aufwertung des Viertels, samt Neubau an der Holbeinstraße („Wohnpark West“) als „Abschluss“ - und schon zuvor dem „Nachbarschaftstreff“ an der Dessauer Straße als Anlaufstelle für alle, die Gemeinschaft suchen.

Ein „Zukunftsbekenntnis der Wohnungswirtschaft“ nennt Bürgermeister Kirchner den Treff, den Wiwog und der zweite Großvermieter vor Ort, die Genossenschaft WBG, gemeinsam begründeten. Während die Wiwog zehn Jahre nach Kyrill nun noch (bzw. wieder) „optische Sanierungen“ vornehmen wird an Fassaden, will die Stadt selbst in West nun in diesem Jahr endlich die Erich-Mühsam-Straße erneuern.

Bäume im Kreis Wittenberg knickten einfach um

Zugeschlagen hatte Kyrill auch in den südlichen Wallanlagen. Wie Streichhölzer hatte der Orkan gleich in Serie Bäume auf der Andreasbreite umgeknickt. Diesen Anblick wird niemand vergessen, der in den Tagen nach Kyrill dort vorbeikam. Unglück im Unglück: Für so etwas zahlt die Versicherung nicht.

Die Stadt schob eine Baumspendenaktion an, Bürger spendeten mehr als 10.000 Euro für frisches Grün. Pläne, den Ort des Desasters zum Teil einer Landesgartenschau werden zu lassen, zerschlugen sich zwar. Dass die Andreasbreite heute wieder eine gepflegte Anlage ist, hat mit einem anderen Projekt zu tun, das eine Woche nach Kyrill bekannt wurde.

Der Lutherische Weltbund, verkündete der Oberbürgermeister am 26. Januar, möchte einen „Luthergarten“ pflanzen aus Obstbäumen. Einen geeigneten Standort gäbe es jetzt. So sollte es dann auch kommen, es wurden aber keine Apfelbäumchen. Die pflanzt man ja auch vor dem Untergang. (mz)