1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Wittenberg
  6. >
  7. Julius Riemer und Nationalsozialismus: Julius Riemer und Nationalsozialismus: In dunklen Höhlen

Julius Riemer und Nationalsozialismus Julius Riemer und Nationalsozialismus: In dunklen Höhlen

Von Günter Kowa 07.05.2019, 09:56
Das Karussell gehört zu den besonderen Präsentationsformen der Riemer-Ausstellung im Stadtmuseum im Zeughaus.
Das Karussell gehört zu den besonderen Präsentationsformen der Riemer-Ausstellung im Stadtmuseum im Zeughaus. Klitzsch

Wittenberg - Der Zuspruch war gewaltig, als die „Sammlung Julius Riemer“ Ende 2018 ihren fraglos einzigartigen Platz in der Wittenberger Museumslandschaft wieder einnahm. In der oberen Etage des neu eröffneten Stadtmuseums im Zeughaus ist das Neben- und Miteinander von Tierpräparaten aller Kontinente und Kulturzeugnisse außereuropäischer Völker wieder zu sehen, das der Berliner Handschuhfabrikant (1880-1958) nach dem Krieg von Berlin ins Wittenberger Schloss verlegte. Es war dort ausgestellt bis zum umbaubedingten Auszug 2011 und verschwand dann im Depot.

Die Feststimmung - vor allem unter dem „Freundeskreis Riemer“ - aber wurde von einem Einwurf jäh gestört: Erneut verschweige das Museum, dass Riemer ein Akteur im Dritten Reich war und frage auch nicht nach der kolonialen Herkunft seiner Erwerbungen.

„Die für Riemer bedeutsame Zeitspanne von 1933 bis 1945 wurde und wird komplett ausgeblendet“, sagte Mathias Tietke, Berliner Publizist, gebürtiger Wittenberger und Autor von Büchern zur Wittenberger Kulturgeschichte, bereits Anfang des Jahres der MZ. „Somit findet sich auch kein Wort zu Riemers Engagement und Zusammenarbeit für das beziehungsweise mit dem SS-Ahnenerbe, seine gute Beziehung zu Hermann Göring und seine finanzielle Förderung von NS-Expeditionen.“

Inzwischen hat Tietke der MZ Einblick in Kopien der Akten gewährt, die er im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfeld sichten konnte und die seine Vorwürfe untermauern.

Dass dieser die Biografie des Sammlers ins Blickfeld rückte, liegt auch am Konzept der Präsentation. Während sie einst im Schloss wissenschaftliche Ordnungsprinzipien anwandte, um Tiere in Gattungen und Lebensräumen zusammenzufassen sowie Volksbräuche und Kulturen zu thematisieren, schaut man jetzt auf „Riemers Welt“.

In seinen Vitrinenschränken liegen die von ihm etikettierten Präparate oder Kunstgegenstände; sein Schreibtisch ist aufgebaut vor Fotos seiner Berliner Villa, und auf einer Art Karussell beäugt man seinen ausgestopften Terrier und den ausgehöhlten Elefantenfuß, der ihm als Papierkorb diente.

Riemers Beziehung zum Dritten Reich wird in Wittenberg weiter von vielen bestritten. Ältere haben Erinnerungen an sein Nachkriegs-Wirken als Museumsmann von integerer Erscheinung. Eine NSDAP-Mitgliedschaft ist indes nicht bekannt.

Von Forschungsbedarf sprach der Riemer-Freundeskreis, solange er dafür kämpfte, dass die Sammlung wieder ins Stadtmuseum kommt, wo sie nun tatsächlich ein Drittel der ohnehin knapp bemessenen Fläche beansprucht.

Verbindung zur SS

Befragt zur Herkunft der Sammlung und zu Riemers Biografie antwortete der Vorsitzende Michael Solf: „Wir wissen noch nicht alles“. Er glaube aber, „sagen zu können, dass man vergeblich nach dunklen Flecken suchen wird“. Diese Vermutung erweist sich nun als hinfällig, da Tietke inzwischen im Bundesarchiv vier Akten mit einem Umfang von 1.500 Seiten gesichtet hat.

Neben viel Belanglosem liegt dort auch die Korrespondenz, die Riemer als Funktionär des Reichsverbands der Höhlenforscher mit Männern in Führungspositionen des „SS-Ahnenerbes“ unterhielt.

Im Sinne der Rassenlehre

Das SS-Ahnenerbe war eine 1935 von SS-Reichsführer Heinrich Himmler gegründete Forschungseinrichtung. Sie sollte auf vielerlei natur- und geisteswissenschaftlichen Gebieten die NS-Rassenlehre untermauern. Ein Forschungsgebiet war die Höhlenkunde. Dafür begeisterte sich Riemer ebenso wie Himmler.

Zwei Schreiben von ihm, datiert 29. Juli 1941, liegen vor, in denen er Riemer zum „Landesgruppenleiter Reich-Mitte“ im Reichsverband der Höhlenforscher und in den Vorstand beruft, außerdem zum Schriftleiter, Kassenwart und Propaganda-Chef.

Noch in 20 weiteren Verbänden hielt der umtriebige Riemer Ämter, so als Vorstand in der „Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents“, deren Schirmherr Luftwaffenchef Hermann Göring war, mit Blick auf „Reinerhaltung des deutschen Urwilds“.

Der Höhlen-Reichsverband war der von Himmler erzwungene, 1940 „gleichgeschaltete“ Nachfolger des 1922 gegründeten „Hauptverbands deutscher Höhlenforscher“, dem auch Riemer angehörte. Dessen Mitbegründer und zeitweilige Vorsitzende war der 1871 in Dresden geborene Jude protestantischen Glaubens Benno Wolf.

Als promovierter Jurist und Richter wurde er zu einem Wegbereiter der Naturschutzgesetze. Einige Dokumente aus dem Bundesarchiv werfen neues Licht auf den Umgang der Höhlenforscher und des SS-Ahnenerbes mit ihm.

In Verehrung für Benno Wolf verleiht der heutige Verband der Höhlen- und Karstforscher einen Preis mit seinem Namen. Wolf aber endete in Theresienstadt. Daher hat der Verband Interesse an Riemer, weil es heißt, er habe sich um Wolfs Rettung bemüht.

Mit „Heil Hitler“ unterzeichnet

Friedhart Knolle, Harz-Naturparkdirektor und „Schriftleiter“ der Verbandszeitschrift, führt das in einem dort erschienenen Aufsatz aus. Es heißt darin unter anderem, Riemer sei es „nie in den Sinn gekommen“, seine Briefe mit „Heil Hitler“ zu unterschreiben - doch genau das findet man in den Briefen im Bundesarchiv.

Ferner beruft sich Knolle auf Riemers „Dokumentarbericht“, geschrieben 1954 im Ton der Selbstrechtfertigung, sowie eine Anzahl von Briefen aus der Kriegszeit, laut Knolle aus dem Nachlass von Riemers Witwe. „Aber“, moniert Mathias Tietke, „diese Quellen sind nicht öffentlich zugänglich.“

Riemer, sagt Knolle, habe sich der Gleichschaltung des Verbands lange widersetzt, „um die Hand über Wolf zu halten.“ Dieser hatte im Zuge der „Arier“-Gesetze sein Richteramt verloren und arbeitete zurückgezogen an einem „Welthöhlenverzeichnis“.

Im Januar 1941 schreibt Riemer einen Brief, den Knolle zitiert, an den Verbandsvorsitzenden, Geologen und SS-Standartenführer Hans Brand: „Um diesen uneigennützigen Mann zu schützen, möchte ich einen Vorschlag unterbreiten“ - nämlich, dass das Ahnenerbe monatlich 150 Reichsmark (RM) an den Verband zahlt, „zum Zwecke der Aufstellung eines Höhlenkatasters“.

Half er einem Juden?

Laut Knolle war das „ein verzweifelter Versuch der Hilfe für Benno Wolf“. Aber „die Verwendung des Geldes ist unbekannt“, entgegnet Tietke. Vielmehr gibt es in den von ihm eingesehenen Briefen eine weitere Forderung Riemers an das SS-Ahnenerbe in Höhe von 1.500 RM jährlich. Belege zeigen, dass er tatsächlich 250 RM pro Quartal erhielt.

Die Gestapo wiederum informiert Riemer im Vorhinein vom bevorstehenden Zugriff auf Wolf. Am 15. April 1942 schreibt Wolfram Sievers, Reichsgeschäftsführer des SS-Ahnenerbes, an Brand, „dass der Jude Benno Wolf mit einem Alterstransport zum Abschub gelangt“. Für Wolfs beschlagnahmte Postscheckhefte sei Riemer zuständig.

Wolfram Sievers schreibt am 15. August: „Riemer hatte von uns den Auftrag, zu Wolf ständig Fühlung zu halten, um zu verhindern, dass das einzigartige Welthöhlenkatastermaterial eventuell von Wolf versteckt oder vernichtet würde.“ „Also“, sagt Tietke, „ein Auftrag direkt vom SS-Ahnenerbe.“

Der Stadt wird allmählich bewusst, dass sie mit der Sammlung Riemer einen Schatz hat, der dem Vergleich mit namhaften Häusern wie dem Bremer Überseemuseum oder dem Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus Museum standhält.

Nach den jüngsten Archivfunden muss sie nun aber zu Riemer, dem Dritten Reich und der Kolonialgeschichte „die Sachlage prüfen“, wie Stadtsprecherin Karina Austermann auf Nachfrage mitteilt. Informationen dazu sollen künftig auf einem zusätzlichen Monitor abrufbar sein. Und zur Provenienzforschung werde eine Stelle ausgeschrieben. „Wir nehmen die Sache sehr ernst.“

Forderung nach Aufarbeitung

Und was schlägt Tietke vor? „Riemers zahlreiche Aktivitäten während der Zeit des Nationalsozialismus sollten dargestellt, die vorliegende Provenienzforschung öffentlich gemacht und die Ausstellung verkleinert werden“, sagt er. „Zu überlegen wäre, welche Exponate für Besucher wirklich interessant und ethisch vertretbar sind. Ein eigenes Gebäude für diese revidierte Präsentation scheint mir sinnvoll.“ (mz)