Haus der Geschichte Haus der Geschichte: Ausstellung über Deutsche aus Russland

Wittenberg - Die Hoffnungen waren groß, von der Leidensgeschichte ihrer Nachfahren im 20. Jahrhundert ahnten die Ausgewanderten nichts. Angeworben ab 1763 von Zarin Katharina, einer Deutschen aus Zerbst, entstanden zwischen 1764 und 1773 bereits 104 deutsche Siedlungen an der Mittleren Wolga. Landzuweisungen, Steuerfreiheit, all das waren Privilegien, die nach dem Siebenjährigen Krieg in Deutschland (1756-1763), verbunden mit Missernten und Hungersnöten, ein besseres Leben in der neuen Heimat versprachen.
„Deutsche aus Russland. Geschichte und Gegenwart“ heißt eine Ausstellung, die jetzt im „Haus der Geschichte“ zu sehen ist und Herkunft und Situation der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland beleuchtet. Und Antworten sucht auf die aktuelle Frage: Wie kann Integration gelingen?
Exemplarisch für jene Siedler der ersten Stunde steht das Schicksal der Familie Schwindt aus Morgentau im Wolgagebiet, die seit 1767 in Russland lebte. Nach anfänglichem Wohlstand folgten 1937 Enteignungen, Erschießungen und Deportationen nach Sibirien. Einer, der diese Familiengeschichte zu Papier brachte, war Alexander Schwindt (1923-2010). Nach hartnäckigen Bemühungen und Schikanen gelang der Familie 1975 die Ausreise nach Deutschland.
Zur Ausstellungseröffnung am Dienstag gab es für viele Besucher erstmalig einen Einblick in ein wenig beleuchtetes Kapitel der deutschen Minderheiten in Russland und der späteren Sowjetunion. Was bedeutet Heimat? „Ohne Heimat sein, heißt Leiden.“ So beschrieb es der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski.
„Was es heißt heimatlos zu sein, zeigt die jüngste Uno-Statistik, die von 60 Millionen Menschen ohne Heimat auf der Flucht spricht“, nannte Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos), eine ernüchternde, zum Nachdenken anregende Zahl. „Mein Vater zählte nach dem Krieg auch zu den Vertriebenen“, stellte er auch einen persönlichen Bezug zu diesem Thema her.
300 000 Deutsche aus Russland mussten die Uniform des Zaren von 1914 bis 1917 tragen und auf ihre Landsleute aus Deutschland, dem Kriegsgegner Russlands, schießen. Viel schlimmer noch die Situation 1941 (Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“): Alle Deutschen wurden nach Sibirien zwangsdeportiert und in einer „Trudarmee“ (Arbeitslager) rekrutiert.
Unter den 200 in Wittenberg lebenden Russlanddeutschen hat nahezu jeder in seiner Familie Opfer zu beklagen. Bei diesem Thema und den Erinnerungen fließen auch heute noch Tränen. Jakob Fischer heißt der Mann, der die Geschichte seiner deutschen Landsleute aus Russland in einem Projekt „Deutsche aus Russland - Gestern und heute“ aufarbeitet. Das Bundesministerium des Inneren und das BAMF fördern seine Arbeit.
„Wir pflegen das Liedgut unserer Vorfahren und identifizieren uns damit“, sagt Pauline Wiedemann bei der Eröffnung - und das zehnköpfige Ensemble „Aljonuschka“ tritt sogleich den Beweis an. Viele bekommen feuchte Augen beim Lied „Die Gedanken sind frei“. Kein Wunder: Der Gebrauch der deutschen Sprache war über Jahrzehnte „nitschego“- verboten.
Da entstehen Sprachdefizite, die es nun rasch aufzuholen gilt. Gerade 0,4 Prozent beträgt der Anteil Russlanddeutscher an den knapp 50.000 Einwohnern der Lutherstadt. Sie nehmen teil an Festen wie Luthers Hochzeit oder am „Tag der Vereine“ - ein Farbtupfer in der bunten Wittenberger Vereinslandschaft. Die Ausstellung kann bis Mitte August besucht werden. (mz)