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Auf Plastiktüten durch die weiße Hölle des Himalaya

Von MARKUS WAGNER 13.10.2008, 17:52

WITTENBERG/MZ. - Entkräftet, schneeblind, erfrorene Zehen und Finger: Wer es bis in die Frühversorgungsstation, die vom Verein "Shelter 108" unterstützt wird, geschafft hat, kommt aus einer weißen Hölle. Bis zu sechs Wochen sind tibetische Kinder in kleinen Gruppen im Himalaya unterwegs, um ins nordindische Exil zu flüchten.

"Wir zweifeln selbst, ob das der richtige Weg ist", sagt der Bad Schmiedeberger Christian Gatniejewski über die Flucht der Kinder. Er engagiert sich im Verein "Shelter 108" für die Versorgung der Flüchtlinge. 600 bis 1 000 verlassen jedes Jahr ihre Familien in Tibet für eine bessere Zukunft in Nepal oder Nordindien. Zum einen seien es kulturelle Gründe, die die Kinder aus dem von China besetzten Tibet trieben, zum anderen wirtschaftliche. "Es ist den Familien unmöglich, ihre Kinder in der Religion zu erziehen", so Gatniejewski. Zwar dulde China, dass tibetische Eltern fünf oder mehr Kinder (statt nur einem) groß ziehen, "die Schulkosten sind aber so hoch, dass eine Ausbildung kaum möglich ist".

Also werden die Kinder ins Exil geschickt. Ziel ist die tibetische Exilgemeinde im nordindischen Dharamsala, wo auch der Dalai Lama residiert. Die Flüchtlinge nehmen eine wochenlange Wanderung mit zahlreichen Gefahren auf sich, um dorthin zu gelangen, erzählt Gatniejewski. Wer noch in Tibet von der dortigen Polizei aufgegriffen wird, der muss bis zu zehn Jahre ins Gefängnis, weiß er. Wer dem entgeht, muss hoch hinauf in die Berge. "90 Prozent der Gruppen gehen über einen einzigen Pass", erklärt Gatniejewski. Die Ortskenntnisse der Führer endeten nämlich an der Schneegrenze. "Tibeter treiben ihre Yaks nicht über den Gletscher. Außerdem sind sie keine Alpinisten." Wie viele Kinder dort oben im ewigen Eis sterben, ist nicht bekannt. Aber es gibt zahlreiche Berichte über Flüchtlinge, die sich verirrt haben, in Gletscherspalten gefallen oder an Erschöpfung gestorben sind.

Andere kommen mit Erfrierungen davon. "Wo wir Gamaschen tragen, haben sich die Kinder Plastiktüten um die Füße gebunden", erzählt Gatniejewski von einer seiner Reisen in den Himalaya. Auf 3 800 Meter hat der Verein auf nepalesischer Seite eine Erstversorgungsstation eingerichtet, um die Verletzungen möglichst schnell zu behandeln. So lassen sich erfrorene Zehen, Finger oder Beine vielleicht noch retten, halten sich die Spätfolgen der Schneeblindheit in Grenzen.

Zu Ende ist die Flucht der tibetischen Kinder hier aber immer noch nicht. Gern gesehen sind sie in Nepal sowieso nicht, sagt Gatniejewski. "Für die Polizei sind sie illegale Einwanderer", fügt er hinzu. Es wird von Kopfgeld gemunkelt, das nepalesischen Polizisten gezahlt wird, schickten sie die Kinder zurück. Von Absprachen zwischen ihrer Regierung in Katmandu und dem UN-Flüchtlingswerk, die Flüchtlinge unbehelligt zu lassen, wüssten die Beamten vor Ort meist gar nichts. Erst im Auffanglager in Katmandu dürfen sich die Kinder sicher fühlen. Von hier aus geht es in SOS-Kinderdörfer in Nordindien - von ihren Familien für immer getrennt durch eine weiße Hölle.

Am 22. Oktober um 19 Uhr berichtet Christian Gatniejewski in einem Multivisionsvortrag im Malsaal des Cranachhauses von seiner Arbeit.