Abschied in Piesteritz Abschied in Piesteritz: Geschäftsführer verlässt sein Lebenswerk

Wittenberg - Die Möbel sind schon raus, Wittenberg Gemüse hat sie übernommen. Gerhard Leske sitzt an einem mit Papieren bedeckten Schreibtisch in einem ansonsten kahlen Raum, Besucher dürfen auf einer Umzugskiste Platz nehmen. Behaglich geht anders. Aber nach Behaglichkeit ist dem 65-Jährigen auch nicht zumute.
Seine Aufgabe besteht in diesen Tagen darin, das Haus auszuräumen, in dem jahrelang die Piesteritzer Servicegesellschaft residierte. Akten sichten, verteilen an die Deutsche Wohnen AG in Berlin, die Siedlungsgesellschaft in München, die Wiwog in Wittenberg. „Das geht mir sehr an die Nieren“, bekennt der langjährige Geschäftsführer der Service-Gesellschaft unumwunden. Er wickelt quasi einen Teil seines Lebenswerkes ab, Ende Januar muss alles fertig sein. Dann ist die Servicegesellschaft, die Ende 2015 ihren Betrieb eingestellt hat, nicht mehr da.
Dass er das Aus hat kommen sehen, räumt Leske ein: „Wir wussten, dass die Deutsche Wohnen Ambitionen hat, selbst zu verwalten.“ Die Verträge seien längst geändert gewesen, ein halbes Jahr Kündigungsfrist. „Wir konnten es hinauszögern.“ Mehr nicht. Er selbst geht in den Ruhestand und hadert trotzdem: „Es wäre schön gewesen, wenn ich jemanden einarbeiten und dann immer mal auf einen Kaffee hätte vorbei kommen können.“ So wie Wittenbergs langjähriger Oberbürgermeister Eckhard Naumann das bisweilen im Rathaus tut.
Vor 24 Jahren ist die Piesteritzer Siedlungsgesellschaft gegründet worden, zunächst als hundertprozentige Tochter der Stickstoffwerke. 1993 übernahmen die Bayernwerke den Wohnungsbestand von der Treuhand. 2003 kam E.ON ins Spiel, später Arsago Real Estate, Cerberus, Pirelli, schließlich die Deutsche Wohnen AG, der aktuelle Eigentümer. Der hat den Verwaltungsvertrag mit der Servicegesellschaft gekündigt, die Anfang 2015 noch sieben Mitarbeiter hatte. Einige haben andere Arbeitsverträge unterschrieben oder gehen ebenfalls in Rente. 116 Wohnungen, die nicht zum Cerberus-Paket gehörten (Häuser in der Ringstraße, Dessauer und Roßlauer Straße) sind bereits 2013 von der Wittenberger Wohnungsbaugesellschaft (Wiwog) übernommen worden. Erhalten bleibt zumindest für einen Übergangszeitraum noch die Piesteritzer Siedlungsgesellschaft, allerdings zieht sie nach Bayern um. Im Bestand sind zwar keine Häuser mehr, dafür aber einige Brachflächen.
Trotz des schnöden Endes, wenn Leske zurückblickt, hat er jede Menge Grund zur Zufriedenheit. „Es war eine wunderschöne Zeit. Ich hatte die Chance, etwas zu gestalten.“ Wohl wahr. Die Piesteritzer Werkssiedlung ist aufgeblüht, sie ist ein Schmuckstück, ein über Wittenbergs Grenzen hinaus bekanntes Kleinod. Wesentlich zu verdanken ist dies: Gerhard Leske, gebürtiger Meuroer, der wieder in seinem Elternhaus lebt.
Leske ist Betriebsschlosser mit Abitur, bei SKW Piesteritz arbeitete er in den 1970er und 80er Jahren als Leiter des Bereichs Wissenschaftliche Arbeitsorganisation. Anfang der 90er absolvierte er in Berlin noch ein Studium in seinem Fachgebiet - und kam dann, einer Bitte folgend, doch zur Wohnungswirtschaft. Mit dem Bestand des Stickstoffwerkes, rund 1 000 Wohneinheiten, musste etwas geschehen. Im Mai 1991 begann der Arbeitsorganisator als Abteilungsleiter Wohnungswesen bei SKW, Chef von damals noch 34 Mitarbeitern. Im Januar 1992 wurde die Siedlungsgesellschaft gegründet. Sein großes Thema zunächst: Privatisierung. „Das Modell der Treuhand“, erinnert sich Leske, „hieß Einzelprivatisierung.“ Auf seinen Einwand, dass die Siedlung erstens denkmalgeschützt ist und zweitens die Häuser wesentlich von Rentnern, Vorruheständlern, Arbeitslosen bewohnt würden, lautete die Antwort damals: „Wir brauchen sie nicht dazu.“
Dass die Sache doch noch gut ausgegangen ist, hat mit glücklichen Umständen zu tun. Damit etwa, dass ein wichtiger Mann bei SKW den Chef der Bayernwerke kannte. Der schickte den Geschäftsführer der unternehmenseigenen Wohnungsgesellschaft nach Wittenberg. Leske: „Er fand die Siedlung interessant. Der Draht stimmte einfach. Er sagte: Wir versuchen das.“ Was folgte, waren Verhandlungen, auf politischer Ebene, mit der Treuhand. Und letztendlich der Kauf des Wohnungsbestandes durch die Bayernwerke und das Versprechen, denkmalgerecht und sozialverträglich zu sanieren. „Ob das heute noch so möglich wäre, da habe ich meine Zweifel.“ Die Bayernwerke, so Leske zu den Gründen, suchten Abschreibungsobjekte und wollten zudem was tun für das wiedervereinigte Land.
Das haben sie in der Tat. Im Juli 1993 wurde die Siedlungsgesellschaft Tochter der Bayernwerke, 1994 stand der Sanierungsplan. „Zum Tag des offenen Denkmals ist das erste sanierte Haus präsentiert worden: Krummer Weg 66.“ Für einen weiteren Schub sorgte die Expo. Insgesamt sind 50 Millionen Euro in die Sanierung der Siedlung geflossen. Leske nennt die Entwicklung ein „Paradebeispiel für vernünftige Ost-West-Hilfe“.
Draußen sieht die Werkssiedlung nach Abschluss der Sanierung wieder aus wie bei der Entstehung zwischen 1916 und 1919, in den Häusern wurde behutsam modernisiert, Räume vergrößert, Bäder in die erste Etage verlegt. „Wir haben Wert darauf gelegt, zu erhalten, was immer ging: Dielen, Treppen, Eingangstüren.“
Nach der Jahrtausendwende änderten sich indes die Zeiten. Die Bayernwerk AG war mit Preussen-Elektra zu E.ON fusioniert. Dort fiel die Entscheidung zum Verkauf. Leske: „Wohnungen gehören nicht zum Kerngeschäft. Die wussten nicht, was für eine Perle hier entstanden war.“ Käufer war Arsago Real Estate. Zwar investierte das Unternehmen noch in erheblichem Maße in die Ringstraße, fasste aber auch den sanierten Teil zu einem Paket zusammen und reichte es an Cerberus weiter. Die schöne Werkssiedlung war zu einem Spekulationsobjekt geworden.
Wovon die Mieter wenig mitbekommen haben. Als Puffer fungierten die Mitarbeiter der Servicegesellschaft, die sich vor Ort kümmerte. Das ist vorbei. Ein weiteres Problem sind die Investitionen, die deutlich abgenommen haben. Der langjährige Geschäftsführer spricht „von einem Sanierungsstau an einigen Stellen. Wir hätten in den letzten Jahren gerne mehr gemacht in Sachen Werterhaltung.“
Die Krux der riesigen Wohnungsunternehmen aus Gerhard Leskes Sicht: „Sie haben keine Bindung zum Bestand. Sie interessieren sich nicht für die Mieter und nicht für die Wohnungen, sondern für die Rendite.“ Seine Hoffnung ist, dass zumindest die Piesteritzer Werkssiedlung irgendwann in kommunale Hände kommt. Und er ist da gar nicht so pessimistisch: „Die Karten werden neu gemischt. Ich habe ein gutes Gefühl.“
Jetzt geht Gerhard Leske erst einmal in Rente. Angst vor Langeweile hat er nicht: „Akkordeon und Gitarre sind schon rausgekramt. Ich möchte gerne Musik machen. Und nach Kuba reisen mit meiner Frau.“ Und ab und an mal nach dem Rechten schauen in der Werkssiedlung. Sein liebster Ort ist die Ecke am Damenheim: „Dort sieht man die ganze Vielfalt.“ (mz)

