17. Juni 17. Juni: Küsschen als letzte Nachricht
WITTENBERG/MZ. - "Ich sehe noch, wie sie auf dem Dachstuhl sitzt und sich freut." Werner Landgraf kann sich gut daran erinnern. Der Rohbau seines Häuschens in Iserbegka (Landkreis Wittenberg) war im März 1990 fertig geworden, seine Tochter Beate hatte in diesem Monat Geburtstag, ihren 17. Doch einziehen sollte sie hier nie: Am 18. Juni 1990 ist Beate Landgraf spurlos verschwunden und erst drei Monate später gefunden worden - ermordet von einem Täter, der bis heute nicht überführt worden ist.
Die Szene auf dem Dachstuhl war typisch für Beate. "Ihre große Schwester hat gepuppt, sie war mit Fahrrad und Roller unterwegs, Hauptsache wild", erzählt Mutter Ingeborg Landgraf. Aus Gräben fischte sie Stichlinge und brachte sie nach Hause, auf den Bauernhöfen rund um die Wittenberger Bruchstraße kannte sie jeder. "Sie wollte immer Tierärztin werden", erzählt Mutter Landgraf. "Ein friedliebendes, hilfsbereites Menschenkind", diesen Satz hört man aus ihrem Munde öfter.
Ein friedliebendes Menschenkind, das einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, das bis heute nicht aufgeklärt wurde. Es ist der Mittag des 18. Juni 1990. Ingeborg Landgraf kommt nach Hause und findet einen Zettel. "Bin nach Wiesenburg, mein Fahrrad holen. Komme zum Abend zurück", hatte die 17-jährige Tochter hinterlassen - und wie immer "Küsschen, Beate" darunter geschrieben.
Beate galt als Sprachtalent, war seit der neunten Klasse im Internat im brandenburgischen Wiesenburg, einer Spezialschule für Sprachen. Der Zettel ist die letzte Nachricht Beates an ihre Eltern. Sie wird in Wittenberg auf ihrem Weg zum Zug noch gesehen, dann verliert sich ihre Spur.
Quietschvergnügt und fröhlich
"Ich hatte sofort Angst", sagt Ingeborg Landgraf heute. Allein mit dem Fahrrad die 40 Kilometer von Wiesenburg zurück nach Wittenberg? "Ich habe sie immer gewarnt, dass sie das nicht machen soll." Dabei hatte Beate durchaus ihre Freiheiten. Sie war an manchen Wochenenden bei der Schwester in Leipzig. "Ob sie bei den Montagsdemos dabei war oder nur zugeschaut hat, wissen wir gar nicht", sagt Vater Landgraf. Dass die Tochter keinen Unfug treibt, war Vertrauenssache, da musste man nicht alles wissen. "Heimlichkeiten hat es aber nie gegeben", erzählt Mutter Landgraf, "sie hat ja jeden Brieffreund immer gleich zu Hause angeschleppt." Und von denen gab es etliche. "Ich weiß gar nicht, wie sie es geschafft hat, zu allen Kontakt zu halten", meint ihr Vater mit sichtlichem Stolz auf die offenherzige und liebenswerte Art seiner Tochter. "Quietschvergnügt und fröhlich" war sein Kind. Die Landgrafs waren mit sich, ihrer Tochter und der Welt im Reinen. Hätte das Leben besser sein können? "Noch besser wäre nicht mehr gut gewesen", sagt der Vater.
Bis eben zu jenem Montag. Bis abends um 18 Uhr wartet Ingeborg Landgraf allein auf ihre Tochter. Ihr Mann ist im thüringischen Wasungen. Vor einigen Monaten war seine Mutter gestorben, nun musste der Nachlass aufgelöst werden. Seine Frau ruft in Wiesenburg an. Von Beate keine Spur. Bis 22 Uhr telefoniert Ingeborg Landgraf immer wieder mit der Schule. Das Fahrrad steht noch da, gesehen hat Beate niemand. Die Polizei rät der besorgten Mutter, erst einmal abzuwarten, junge Mädchen könnten schon mal ausreißen. Sie solle noch die Nacht verstreichen lassen.
"Ich kenne meine Tochter", fährt es da aus Frau Landgraf. Sie sieht schließlich Beate noch im Ziemsen-Verlag, wo sie arbeitete, ins Büro schneien: "Tagchen, Tagchen, na Maminka". Beate wollte die Zeitschriften lesen, die der Verlag aus dem Westen importierte. "Was zu trinken, was zu naschen, dann war sie selig." So jemand reißt einfach aus? Nein.
Ingeborg Landgraf telefoniert noch bis Mitternacht herum, versucht zu schlafen und steht morgens um 5.30 Uhr bei der Polizei am Tresen, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Ihr Mann hört an diesem Dienstag auf der Arbeit in Leipzig von den Vorfällen, fährt nach Hause und beginnt noch am Abend, mit seiner Frau Beates mögliche Route abzufahren. Jeder Spur gehen Landgrafs selbst nach. "Ich habe immer geglaubt, dass sie noch lebt", sagt Frau Landgraf. Nachdem Beate einen Monat später immer noch nicht gefunden worden ist, machen Spekulationen über Mädchenräuber die Runde. Einem fliegenden Teppichhändler reisen Landgrafs bis Braunschweig nach, reden mit ihm und seiner Familie. "Sie hätten Beate ja gefangen halten können", sagt Frau Landgraf.
Fund im Übungsgelände
Dass ihre Tochter tot sein könnte, das wollen die beiden nicht akzeptieren. Vielleicht war es ihre Art, mit dem Grauen und der Ungewissheit umzugehen. Professionelle Hilfe, wie sie heute zu erwarten wäre, haben Landgrafs jedenfalls nicht erhalten. "Um uns haben sich nur Verwandte und Bekannte gekümmert", sagt die Mutter.
Das ist nicht anders, als Beate gefunden wird. Drei Monate nach ihrem Verschwinden entdeckt ein Pilzsammler im Wald bei Klieken eine Leiche. Erst vor kurzem war das militärische Sperrgebiet von den Russen geräumt worden. "Da traute sich fast keiner rein, wegen der Munition", erklärt sich Landgraf, warum es so lange dauerte, bis seine Tochter gefunden wurde. Dass sie es war, steht schnell fest. Landgrafs identifizieren die gefundenen Habseligkeiten als die ihrer Tochter. Und nachdem sie am 13. September 1990 bei der Kripo in Halle erfahren haben, wo sie gefunden wurde, fahren sie dorthin. "Ich musste alles sehen", sagt Frau Landgraf. Von den Fundort-Fotos hat sie sogar Kopien gemacht. Am selben Abend finden sie die Panzergrube, in der Beate Landgrafs Überreste lange Zeit gelegen haben müssen. Die Spuren deuten auf eine Verfolgungsjagd durch den Wald. "In dieser Nacht", sagt Ingeborg Landgraf, "sind die Haare meines Mannes weiß geworden."
Nun ist auch die Hoffnung gestorben. "Beate ist tot, wir werden nie Enkel von ihr haben", klagt Ingeborg Landgraf. Sie fängt an "zu lesen ohne Ende, damit man nicht nachdenkt". An ihre Arbeit im Verlag ist nicht zu denken. Landgrafs beginnen, die Fundstelle einzufassen und zu pflegen. "Das Herz von Otto I. liegt in Memleben, an dieser Stelle bei Klieken liegt das Herz meiner Tochter", sagt Frau Landgraf. "Die Stelle, wo ein Mensch gestorben ist", hält Werner Landgraf für "wichtiger als die, wo er begraben ist". Er hat beim Besuch der Panzermulde "mit allen Sinnen aufgesogen", was er vorfand.
Seitdem haben Landgrafs zwar Weihnachten gefeiert, fröhlich waren sie aber nie wieder. "Im Alltag steckt man es weg", sagt Frau Landgraf, "aber an den Gedenktagen kommt es wieder." Wenn draußen am Radweg in Iserbegka ein Kinderwagen vorbeifährt, wenn die anderen Kindertag feiern, wenn im März Geburtstage anstehen. Dann wird es schwer für Ingeborg und Werner Landgraf.
Und wenn im Fernsehen über Verbrechen wie die Ermordung der Heidenheimer Bankiersfrau vor einigen Tagen berichtet wird, fängt Werner Landgraf zu rechnen an: Wie alt könnte der Täter heute sein, wie alt war er damals? Denn auf der Suche nach dem, der ihrer Tochter das angetan hat, sind Landgrafs noch immer - auch wenn in dem Fall nicht mehr aktiv ermittelt wird. Am 16. Februar 1994 teilt die Staatsanwaltschaft Dessau den Landgrafs mit, dass "die Ermittlungsmöglichkeiten erschöpft" sind. Das Verfahren werde eingestellt. Was nicht heißt, dass es ad acta gelegt ist. Regelmäßig würden alte Fälle von neuen Beamten überprüft, die möglicherweise andere Ansätze finden, sagt Staatsanwalt Frank Pieper. Das Verfahren könne sofort wieder aufgenommen werden, Mord verjährt nicht. Ingeborg Landgraf hofft darauf. "Es muss doch irdische Gerechtigkeit geben", sagt sie. "Und ich muss wissen, was passiert ist." An jenem 18. Juni 1990. Heute vor 20 Jahren.