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Sie fotografiert tote Babys Sie fotografiert tote Babys: Wie Nicole Haucke Eltern ein einmaliges Geschenk macht

Von Susanne Thon 15.02.2019, 11:00
Nicole Haucke fotografiert Sternenkinder.
Nicole Haucke fotografiert Sternenkinder. Maik Schumann

Sangerhausen - Auf einmal ging nichts mehr. Es brach aus ihr heraus, die Tränen, die Gefühle ... Als sie ein paar Tage zuvor ins Krankenhaus gefahren war, wollte sie die Frau mit der Kamera sein. Die, die Fotos macht in einer Situation, die niemand erleben möchte. Die mitfühlt, aber ihre Emotionen im Griff hat, die funktioniert, sobald der Alarm schrillt.

Doch sie wurde zur Stütze für zwei ihr bis dahin völlig unbekannte Menschen, denen gerade das Schlimmste widerfahren ist, was Eltern passieren kann. Eine gefühlte Ewigkeit saß die Fotografin mit dem Vater vor dem Operationssaal, wartete auf das, was längst traurige Gewissheit war: Das Baby, auf das er und seine Frau sich so gefreut hatten, war tot, sein Leben zu Ende, bevor es angefangen hat.

Nicole Haucke aus Sangerhausen fotografiert Sternenkinder

Nicole Haucke fotografiert Sternenkinder, Kinder, die vor, während oder nach der Geburt sterben, und Babys, die am plötzlichen Kindstod gestorben sind. Sie nimmt dafür kein Geld. Die 31-jährige Sangerhäuserin ist Teil einer Initiative, der mehr als 600 Fotografen in Deutschland und Österreich angehören: „Dein Sternenkind“, 2013 ins Leben gerufen vom freien Fotografen und Filmemacher Kai Gebel.

Dabei geht es um mehr als ums bloße Bild. Die Fotos sind eine Art Beweis, dass es den kleinen Menschen gegeben hat, die vielleicht einzige Erinnerung.

Statistisch gesehen ist eine von 1000 Geburten eine Totgeburt. Mediziner sprechen davon, wenn das Ungeborene bereits über 500 Gramm gewogen hat. Ungleich höher ist die Zahl der Fehlgeburten, deren Wahrscheinlichkeit in verschiedenen Quellen unterschiedlich angegeben wird.

Ein Verlust in der Familie machte Haucke auf Sternenkinder aufmerksam

Nicht immer stirbt das Ungeborene von selbst: Laut Statistik werden jedes Jahr deutschlandweit knapp 4000 Schwangerschaften aus medizinischen Gründen abgebrochen, weil die Gesundheit der Mutter gefährdet, das Kind schwer krank ist oder keine Überlebenschance hat. Hier erlaubt das Gesetz den Abbruch der Schwangerschaft auch noch nach der zwölften Woche.

Ihre Cousine habe sie dazu ermuntert, sich der Initiative anzuschließen, erzählt die Fotografin. Vor neun Jahren starb deren Baby kurz vor der Geburt. Der Verlust habe ihre Cousine schwer getroffen, sie habe lange gebraucht, ihn zu verarbeiten, sagt Nicole Haucke.

Sternenkinder zu fotografieren, das musste sie aber erst mal überdenken: „Ich habe mit den Organisatoren telefoniert und mit Fotografen gesprochen, die das schon gemacht haben, war mir unsicher“, räumt sie ein - bis nach einer Woche der erste Alarm losging.

Sternenkind-Fotografen sind fast immer erreichbar

Hinter „Dein Sternenkind“ steckt ein ausgeklügeltes Alarmierungssystem. Rund um die Uhr können über die Website www.dein-sternenkind.de Fotografen angefordert werden - vom Klinikpersonal oder den Eltern. Haben sie das Formular ausgefüllt und abgeschickt, bekommen sie binnen weniger Minuten einen Rückruf.

Dann löst die Zentrale über eine Smartphone-App Alarm aus. Der blinkt bei allen Fotografen auf, die in diesem Bereich gelistet sind. Wie viele das im Landkreis Harz seien, kann Oliver Wendlandt, Sprecher der Initiative, nicht sagen. Jeder Fotograf lege seinen Aktionsradius selbst fest, das führe dazu, dass die Fotografen kreis- und teilweise auch länderübergreifend im Einsatz seien.

Nicole Haucke hat ihren Radius 100 Kilometer angegeben, vor kurzem war sie in Jena. Einen Alarm kann sie annehmen oder ablehnen. Nimmt sie ihn an, muss sie sich im Fotografenforum einloggen, erfährt dort, ob es sich um einen geplanten Abbruch handelt, und in welcher Schwangerschaftswoche die Mutter ist; dann nimmt sie Kontakt auf, spricht Details ab.

Sternenkinder-Fotografie: Die Geschichte drumherum ist das Schwere

Als freiwillige Feuerwehrfrau sei sie es gewohnt, alarmiert zu werden, sagt die Fotografin. „Der Adrenalinschub, den die Alarmierung auslöst, ist vergleichbar mit dem bei Feuerwehr. Man funktioniert dann.“ So war es auch bei ihrem ersten Einsatz, den sie als dramatisch beschreibt, denn „um die Mama stand es sehr schlecht“.

Überhaupt seien es die Geschichten dahinter, die berührten; „das Fotografieren ist nicht schlimm“. Sie weiß, was zu tun ist, wie sie Deckchen und Blüten anordnen, das Kind drapieren muss, und sei es noch so klein. „In der 18. Woche passt es gerade so auf die Hand.“ Wenn es die Eltern können und wünschen, ist auch eine Fotoreportage möglich, die dokumentiert, wie sich die Eltern von ihrem Baby verabschieden.

Wie wichtig ein Foto vom ungeborenen Kind sein kann, weiß Matthias Zentner, Pfarrer und Klinikseelsorger in Quedlinburg. Deshalb würden auch am Harzklinikum Fotos gemacht, sagt er, bisher aber nur vom Personal. Das ist nicht das Einzige: „Das Geburtshilfe-Team bemüht sich noch im Kreißsaal darum, den Frauen eine ruhigere Atmosphäre zu gewähren“, erklärt Markus Hermsteiner, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe.

Im Anschluss würden die Patientinnen in Einzelzimmern in einem ruhigeren Bereich der Wochenstation betreut. Auf Wunsch sei auch die Unterbringung auf einer anderen Station möglich. „Allen betroffenen Frauen wird eine Unterstützung durch eine Psychologin und die Klinikseelsorge angeboten“, sagt Hermsteiner.

Eltern von Sternenkindern wollen oft erst später Bilder sehen

„Wenn die Eltern es wollen, geben wir die Bilder in einem geschlossenen Umschlag mit“; wenn nicht, würden sie - in gedruckter Form - archiviert, erklärt Matthias Zentner. Er habe es selbst schon erlebt, dass Sternenkinder-Eltern lange nach dem erlittenen Verlust auf ihn zugekommen seien, gefragt hätten, ob es nicht irgendetwas gebe, das zeige, dass das Kind existiert habe. Ein Foto zum Beispiel. „Das zu professionalisieren, ist eine gute Idee“, findet Zentner.

Auf Professionalität legt die Initiative höchsten Wert: „Zwei Drittel der Fotografen lehnen wir ab“, sagt Wendlandt, „wir brauchen Fotografen, die ein Portfolio zeigen, Menschen fotografieren und unter schlechten Lichtverhältnissen arbeiten können“. Auch die technische Ausrüstung müsse Kriterien erfüllen.

Nicole Haucke ist Profi, seit 2012 selbstständig, spezialisiert auf Kinder-, Familien- und Hochzeitsfotografie. 2017 eröffnete sie ein Studio, und seit vergangenem Jahr fotografiert sie für „Dein Sternenkind“.

Knapp 2000 Mal wurden sie und ihre Berufskollegen im vergangenen Jahr alarmiert. „Wir haben kein einziges Kind nicht fotografiert“, sagt Wendlandt. Die gesamte Organisation ist ehrenamtlich. Das Projekt finanziert sich durch Preisgelder - die Initiative wurde unter anderem mit dem Deutschen Engagementpreis ausgezeichnet. Und auch Spenden, eingespielt bei Benefizkonzerten oder aufs Konto überwiesen, helfen. „Wir haben aber noch nie darum gebeten“, sagt Wendlandt.

Auch die Familie, mit der Nicole Haucke so viele Stunden im Krankenhaus verbrachte, hat gespendet; sie schickte der Fotografin Blumen und sehr persönliche Zeilen. Und auf einmal ging nichts mehr. Es brach aus ihr heraus, die Tränen, die Gefühle… Irgendwie kam alles zusammen.

Diese immense Dankbarkeit, die ihr entgegengebracht wurde, die Verbundenheit, die auf der Station entstanden war, erahnen zu können, wie es dem Paar gehen muss - schließlich ist sie selbst Mutter eines neunjährigen Sohnes. „Das ging mir so nah“, sagt Nicole Haucke. „In dem Moment war es, als wäre es in meiner eigenen Familie noch mal passiert.“ (mz)

Nicole Haucke fotografiert ehrenamtlich Sternenkinder.
Nicole Haucke fotografiert ehrenamtlich Sternenkinder.
Maik Schumann