Sangerhausen Sangerhausen: Ostrock in der Mammuthalle
Sangerhausen/MZ/SUS. - Mucksmäuschenstill ist es in der Sangerhäuser Mammuthalle, in der über 500 Personen sitzen. Die Lichter sind erloschen. Fahrradklingeln unterbricht die Stille. Da hat es eine Besucherin besonders eilig. Tante Erna, Toilettenfrau aus Warnemünde, ist auf dem Weg zum Strandcafé. Vorbei an den Zuschauern, von denen die ersten bereits anfangen zu kichern. Und zwar über die Kleidung, zu der eine schwarze Leggins und eine traditionelle Kittelschürze aus DDR-Zeiten gehört. Tante Erna (Julia Lehmann) hat es eilig. Sie ist schließlich mit ihrem westdeutschen Verwandten Micha (Dirk Soukup) verabredet. Und mit dem kann sie nach langer Zeit wieder über den deutschen Osten mit all seinen Eigenheiten erzählen - und das beim ersten deutschen Ostrockmusical.
"Kennt ihr noch die sozialistische Hilfe?", ruft die taffe Erna ins Publikum. Angelika Weise aus Sangerhausen nickt zustimmend. Auch sie habe in der DDR mehrmals die Erfahrung gemacht, dass man bestimmte Sachen nur bekam, wenn man jemanden kannte. So geht es Erna. Ihre "Freundschaftsleistung" hat sie längst erhalten, die Gegenleistung jedoch noch nicht beglichen. 100 Westmark muss sie dem Freund gewähren und Tante Erna kommt die Idee: "Du kannst mir das Geld gleich geben", wendet sich Erna an den gewieften Micha. Der hat schließlich ob der vergessenen Farbfilme noch etwas gutzumachen.
Doch der westdeutsche Verwandte hat eine brillante Idee, wie er das Defizit wettmachen kann: indem er ein Pärchen vom Osten hinüberschmuggelt - in den "goldenen, deutschen Westen". Trotz Mauer und "zu einem kleinen Preis", wie der schlitzohrige Geschäftsmann versichert. Nur für 10 000 Westmark. Ob sich Nicole (Judith Zürcher) und ihr Freund Tommy (Holger Götzky) darauf einlassen? Immerhin liegt der Wechselkurs bei 1:8. Der Traum vom eigenen Eiscafé für Nicole und eine neu gegründete Rockband für Tommy - ist das 80 000 Ostmark wert? Und warum werden die Ersparnisse im Kofferradio aufbewahrt? Die Antworten darauf gibt's im Musical.
Nun sucht ein anderer Besucher das Rampenlicht: Sachse Peter (Torsten Ludwig) betrachtet mit großem, ledernem Reisekoffer erst mal die Zuschauer. Ob die ihn wohl mit seinem ausgeprägten Dialekt verstehen? "Kennst du den Konsum-Brötchen-Song", fragt der illustre Sachse einen Besucher, der mit einem Schulterzucken antwortet. Worauf Peter den Song anstimmt: "1 000-mal berührt…" Ob Peter auch gern Brötchen isst? Die Frage liegt nahe. Denn der Bauch des Sachsen ist ein wenig rundlich. Dafür hat Peter sofort eine Ausrede: "Ich habe keinen dicken Bauch; die Beine sind nur zu weit hinten", entgegnet er wortgewandt. 18 Jahre habe er auf seinen Trabi warten müssen.
Torsten Ludwig sorgt in seiner Rolle für permanent angespannte Lachmuskeln bei Markus Schaumkelle, der den Sachsen am besten findet. Genau wie alle übrigen Darsteller aber lebt Ludwig geradezu seine Rolle und strahlt eine hohe Authentizität aus. Die lebt er besonders auch in den ausdrucksstarken und voller Gefühl gesungenen Liedern aus. Der Mix aus Schauspiel, Tanz und Gesang, der fast alle ostdeutschen Klischees aufgreift und auf heitere Weise in eine Flüchtlingsgeschichte einbettet, findet Schaumkelle. Bei ihm weckt das Ostrockmusical Erinnerungen an seine Kindheit in der DDR. "Onkel und Tante lebten im Westen und auf ihren Besuch habe ich mich immer sehr gefreut", erzählt der Allstedter. Besonders auf die Schokolade und das Nutella habe er sehnsüchtig gewartet. Apropos warten: In Geduld üben musste man sich zu DDR-Zeiten auch bei Farbbildern. "Damals bekamen wir die entwickelten Farbfotos erst nach zwei Monaten", erinnert sich Markus Schaumkelle.
"Sehr gut" gefällt Elke Fiedler aus Sangerhausen das Musical. In der DDR habe es viele schöne und leckere Dinge gegeben. Zum Beispiel die Fünf-Pfennig-Brötchen. "Wir nannten sie Fettbrötchen. Davon ist man schön satt geworden", erinnert sich die 57-Jährige, die sich spontan zum Besuch des Musicals entschieden hatte. An vieles könne sie sich lebhaft erinnern - auch an die gemusterten Dederon-Kittelschürzen. Ihre 83-jährige Mutter trage auch heute noch eine solche Schürze.