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Leonora in den Fängen des IS Leonora Messing beim IS in Syrien: Wie Vater Maik Messing aus Breitenbach bei Sangerhausen um seine Tochter kämpft

Von Joel Stubert Aktualisiert: 21.01.2022, 13:21
Während ihrer Zeit beim IS hat Leonora zwei Mädchen geboren. Beide kamen zu früh auf die Welt, das erste sogar drei Monate eher.
Während ihrer Zeit beim IS hat Leonora zwei Mädchen geboren. Beide kamen zu früh auf die Welt, das erste sogar drei Monate eher. Kabisch

Sangerhausen - Als Maik Messing mit bei Pfarrer Markus Blume sitzt, geht es nur noch um Details für die Beerdigung seiner Tochter Leonora. Eben jene Leonora, die sich im März 2015 mit gerade einmal 15 Jahren dazu entschied, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Niemand aus ihrem Umfeld im beschaulichen Breitenbach (Mansfeld-Südharz) wusste davon.

Monatelang hatten Maik Messing und seine Familie darum gekämpft, Leonora wieder aus der Terrororganisation herauszuholen. Sie hatten geweint, gehofft, sich gefreut und getrauert. Nun soll alles vorbei sein?

Leonora Messing aus Breitenbach bei Sangerhausen beim IS - Bangen der Eltern

„Während des Gespräches sagte Markus zu Leos Mama und mir: ,Was ist euer Gefühl, lebt sie noch oder nicht?’“, erzählt Messing. In ihren Herzen spüren er und Leonoras Mutter, dass ihre Tochter nicht bei einem Bombenangriff auf Rakka Wochen zuvor verletzt wurde und auch nicht ins Koma gefallen und später an den Verletzungen gestorben ist.

„Wir haben nicht das Gefühl, dass sie tot ist“, sagen sie. Ob aus Überzeugung oder purer Hoffnung, weiß er heute auch nicht mehr. Pfarrer Blume klappt das Buch zu. „Gut, dann lebt sie“, sagt er. Am nächsten Tag meldet sich Leonora zurück. „Glaubt nicht, was sie schreiben. Ich lebe.“

Leonora Messing beim IS: Vater schreibt Buch

Was Maik Messing und seine Familie in den vergangenen vier Jahren erleben und ertragen mussten, hat er in einem Buch verarbeitet. „Leonora - Wie ich meine Tochter an den IS verlor - und um sie kämpfte“, heißt es. Über Nacht flüchtet seine Tochter mit Hilfe gefälschter Unterschriften in die Türkei, zwei Tage später schon ist sie in der IS-Hochburg Rakka in Syrien.

Maik Messing, 47-jähriger Bäckermeister aus Breitenbach bei Sangerhausen, hat ein Buch geschrieben.  Es sei die einzige Möglichkeit, die Erlebnisse zu verarbeiten, sagt er.  „Wenn wir durch das Buch verhindern können, dass auch nur einer das gleiche wie Leonora macht und seine Familie in die Hölle schickt, haben wir viel erreicht.“

„Leonora - Wie ich meine Tochter an den IS verlor - und um sie kämpfte“ Ullstein Buchverlag, ISBN: 978-3-430-20227-5.

Am 12. März 2015 meldet sich Leonora zum ersten Mal aus Rakka, sechs Tage nach ihrem Verschwinden. Schon da erlebt Messing eine Mischung verschiedener Gefühle, die sich später oft wiederholen sollte: Freude, dass sie noch lebt, mischt sich mit der Angst, was die Zukunft noch bereithalten mag.

Messing ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht im entferntesten, was alles in den kommenden Jahren passieren wird. Doch eines ist ihm sofort klar: Leonora gehört da nicht hin. Sie, die 15-Jährige aus dem 190-Einwohner-Dorf Breitenbach, einem Ortsteil von Sangerhausen. Sie, die sich nicht einmal in den Hühnerstall traute, weil es dort Mäuse gibt. „Man fragte sich schon, wo das hinführt.“

Leonoras Flucht zum IS war lange geplant

Es sei hart gewesen zu erkennen, dass diese Flucht lange geplant gewesen ist, erinnert er sich. An diesem 12. März meldet sich auch Martin Lemke erstmals bei ihm, der drei Tage nach Leonoras Ankunft bei ihm in Rakka ihr Ehemann wird, sich beim IS Nihad Abu Yaser nennt und der als Mitglied es IS-Geheimdienstes Amnijat an Hinrichtungen beteiligt gewesen sein soll.

„Als ich das erste Mal mit ihrem Mann gesprochen habe, war das ein Schock. Ein normaler Mensch kann das nicht begreifen, man denkt permanent: Das muss ein schlechter Scherz sein. Das hat man häufig gehofft, aber man wusste, dass es nicht so ist.“ Fortan werden das Handy und Whatsapp zu den wichtigsten Begleitern. „Das normale Leben ist vorbei, nichts mehr so wie vorher, du funktionierst nur noch. Essen, trinken, irgendwann vielleicht mal schlafen.“

Stets und ständig hat er nur die Fragen im Kopf. „Warum, warum nur? Was hätte ich sehen müssen, war ich zu leichtgläubig?“ Dass sich seine Tochter dem Islam zugewandt hat, wusste Messing. Nicht aber, dass sie schnell in Chatgruppen landete, in denen sie einer Gehirnwäsche unterzogen wurde. Dass sie in ihr Tagebuch schrieb, den Islam daheim in Breitenbach nicht ausüben zu können, erfuhr er erst später. Sie aus Rakka rausholen zu wollen, steht für Familie Messing von Anfang an fest.

Nach zwei Monaten: Leonora will vom IS flüchten

Auch Leonora will bereits nach zwei Monaten wieder nach Hause, ihren Ehemann findet sie „eklig“, schreibt sie heimlich nach Hause. Die Kommunikation ist zwar regelmäßig, aber auch gefährlich. Erwischt sie ihr Ehemann, weiß niemand, wie er reagiert. Und die Messings wissen nie, ob es wirklich Leonora ist, die da schreibt.

Bei einem Fluchtversuch wird die Familie auch von den beiden Journalisten Volkmar Kabisch und Georg Heil unterstützt. Sie organisieren ein Treffen mit Abu Ismael, einem Schleuser, der der Al-Nusra-Front angehört, die wiederum als Arm von Al Qaida gilt.

Die ARD zeigt am Montag, 22.50 Uhr, die Doku „Leonora - wie ein Vater seine Tochter an den IS verlor“.

Nahe der türkisch-syrischen Grenze trifft sich Maik Messing aus Breitenbach also mit Al Qaida, um mit Schleusern über die Flucht seiner Tochter zu verhandeln. „Wir mussten uns so oft auf Menschen verlassen, die man eigentlich nicht kennt“, sagt er. „Das war schon Alltag. Man wägt ab, was es bringt und was im schlimmsten Fall passieren kann.“

Abu Ismael verspricht Hilfe, beim Preis kommt man sich entgegen und landet bei 7000 bis 8000 Dollar. Gut, dass die Messings kurz zuvor erst einen Kredit in Höhe von 12.000 Euro für einen neuen Pferdestall aufgenommen hatten. „Man kann in solchen Phasen nicht klar denken. Du funktionierst nur noch. Täglich von 14 bis 16 Uhr fanden die Fluchtversuche statt“, erzählt Messing. „Das sind extrem angespannte Phasen.“ 20 bis 30 Mal wird die Flucht abgebrochen, denn auch die Schleuser gehen ein hohes Risiko ein. Am Ende scheitert der Plan.

Flucht Leonoras vom IS scheitert mehrfach

„Wie genau der Fluchtversuch aufgeflogen ist, wissen wir bis heute nicht. Ich nehme an, es ist beobachtet worden“, sagt Maik Messing. „Nach wenigen Stunden meldete sich mein Schwiegersohn und hat mir gratuliert, dass der Versuch erfolgreich gescheitert ist, ihm seine Frau wegzunehmen.“

Auch ein weiterer Versuch scheitert, dieses Mal von Leonora selbst initiiert. Da Leonora bei dieser Operation in einer Wohnung ohne Internetzugang untergebracht war, nutzen die Schleuser die Gelegenheit, Maik Messing zu erpressen, drohen mit Leonoras Tod. Das sei das Schlimmste gewesen, unvorstellbar, sagt er. „Ich habe dann den Kontakt abgebrochen und gesagt: ,Gut, es ist nun durchaus möglich, dass sie sie umbringen, aber ich kann nicht mehr’“, sagt Messing. Zwei Tage später meldete sich Leonora. „Ja mir gehts gut. Haben die sich überhaupt bei dir gemeldet?“

Die heute 19-Jährige flüchtete Ende Januar aus dem letzten IS-Zipfel und wurde -  wie von ihr erhofft -  von kurdischen Kräften gefangen genommen. Zusammen mit ihrem Mann Nihad, ihren Kindern Habiba und Maria sowie Nihads Zweitfrau Khadija und deren Kindern gelangte sie zu Fuß aus Baghouz in den Nordosten Syriens. Im Flüchtlingslager Al-Haul nahe der Stadt al-Hasaka lebt sie mit rund 75.000 Menschen in  Zelten. Ob und wann sie zurückkehren kann, entscheidet die Bundesregierung.

Leonora aus Sangerhausen lebt in Flüchtlingslager

Mittlerweile lebt Leonora mit den beiden Kindern in einem Flüchtlingslager in Nordostsyrien. Deutschland aber will IS-Mitglieder nicht einreisen lassen. Wie geht es weiter? „Wir wollen sie zurück haben, aber das zerstörte Vertrauen wird sicherlich eine Rolle spielen. Ich sage immer: vergeben ja, aber nicht vergessen“, sagt Maik Messing. (mz)

Leonora bevor sie sich dem IS anschloss.
Leonora bevor sie sich dem IS anschloss.
Familie