30 Jahre Wende 30 Jahre Wende : Zum Mauerfall vereidigt - Grenzöffnung verschlafen

Sangerhausen - Es war ein kalter, trüber Herbsttag, dieser 9. November 1989. Ein Donnerstag. Ich hatte an diesem Tag vom Betrieb Sonderurlaub bekommen, da ich eine Einladung von der Volksarmee aus Leipzig hatte. Am 1. November 1989 war mein Mann zum Wehrdienst nach Leipzig eingezogen worden.
Er war 25 Jahre alt und das war für damalige Verhältnisse eine sehr späte Einberufung. Normalerweise fand die Vereidigung der Soldaten drei Monate nach dem Einzug statt, doch im unruhigen Herbst 1989 war ja vieles anders.
Am 09. November Eid geleistet
Im Nachgang weiß man, dieses Eilverfahren war der Angst und Unsicherheit der damaligen Machthaber geschuldet. Gemeinsam mit meinem zweijährigen Sohn und meinen Schwiegereltern fuhren wir nach Leipzig, wo am frühen Nachmittag die feierliche Vereidigung der Soldaten stattfand.
Wir sind an Ihren Geschichten, Erinnerungen und Erlebnissen interessiert. Was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben? Kennen oder kannten Sie Leute, die in den Westen geflüchtet sind? Was haben Sie empfunden? Haben Sie sich an Protestaktionen beteiligt? Welche Gedanken bewegten Sie? Hatten Sie Angst?
Und: Wie haben Sie den Tag des Mauerfalls direkt erlebt? Saßen Sie vorm Fernseher oder haben Sie erst am nächsten Tag davon erfahren? Wann sind Sie zum ersten Mal gen Westen gefahren? Welche Eindrücke hat das hinterlassen? Was haben Sie sich vom Begrüßungsgeld gekauft? Schreiben Sie uns, schicken Sie uns Fotos, berichten Sie von Ihren Erlebnissen. Schon jetzt vielen Dank dafür.
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Ich kann mich noch sehr gut an die Gesichter der vielen jungen Männer erinnern. Sie alle hatten die Zeit der beginnenden Montagsdemos noch in ihrer Heimat miterlebt und spürten, dass das Land irgendwie im Umbruch war. Und nun waren sie alle hier und sollten in dieser Feierstunde einen Eid auf ihr Vaterland, die DDR leisten.
Nach der Zeremonie bekamen die meisten Soldaten Ausgang, den sie vorab beantragt hatten. So auch mein Mann. Gemeinsam fuhren wir durch Leipzig und kehrten in einer große Gaststätte ein.
Dort aßen wir zu Abend. Anschließend fuhren wir zur Kaserne zurück und verabschiedeten uns. Wann wir uns wiedersehen würden wussten wir nicht, da dies von vielen Faktoren abhing. Mein Mann konnte zwar einen Antrag auf Heimaturlaub stellen, aber ob dieser genehmigt wurde lag im Ermessen der Vorgesetzten.
Angst und Freude
Danach ging es wieder mit dem Auto meiner Schwiegereltern in Richtung Sangerhausen. Aus Rücksicht auf das schlafende Kleinkind blieb das Radio während der ganzen Autofahrt aus.
Zuhause angekommen, trug mein Schwiegervater seinen schlafenden Enkel die Treppe hoch und legte ihn in sein Kinderbett. Wir verabschiedeten uns, und da es ein langer anstrengender Tag gewesen war, ging auch ich gleich schlafen.
Ich schlief sehr unruhig, da mir ganz viele Bilder des vergangenen Tages noch durch den Kopf gingen. Auch hatte ich Angst um meinen Mann wegen der gefährlichen Situation im Leipzig.
Da ich für den kommenden Tag Urlaub genommen hatte, konnte ich schlafen, bis unser Sohn mich weckte. Ich verbrachte mit ihm einen gemütlichen Vormittag und machte erst gegen Mittag das Radio an, um Nachrichten zu hören.
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte, mir liefen die Tränen und ich bekam eine Gänsehaut. Mein Sohn sah mich an und fragte: „Mama, warum weinst du?“ Ich nahm ihn hoch und drückte ihn einfach nur an mich. Danach schaltete ich den Fernseher ein und starrte auf die vielen glücklichen Menschen.
In der Kaserne in Leipzig hingegen wussten die Soldaten zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Grenzöffnung. Im Gegenteil. Dort wurde aufgerüstet und noch extra Kampfgruppen angefordert, da man befürchtete, die Bevölkerung würde das Waffenlager stürmen, um sich gegen die Machthaber zu bewaffnen und sie zu stürzen.
Befehle widerrufen
Von der Grenzöffnung erfuhren die Soldaten erst zwei Tage später, da ihnen gegenüber absolute Nachrichtensperre galt. Die einzige zugängliche und erlaubte Nachrichtenquelle, die sie hatten, war die „ Aktuelle Kamera“.
Doch davon machten die wenigsten Gebrauch. Auch für die Offiziere war es sehr schwierig, da auch für sie die Informationen sehr spärlich flossen und keiner so richtig wusste, wie es nun weitergeht.
Mein Mann erzählte mir später, dass etwas, das einmal als neuer Befehl rausgegeben wurde, am nächsten Tag schon wieder widerrufen wurde. Manchmal auch von einer Stunde zur anderen.
Auch der Ton und die Ansprache der Soldaten durch den Vorgesetzten veränderten sich. Hieß es noch zu Beginn seiner Armeezeit „Genosse Soldat“, wurde er nach dem Mauerfall mit „Herr Soldat “ angesprochen.
Mit dem Fall der Mauer ergab es sich dann, dass auch Soldaten einen Antrag auf Zivildienst stellen konnten, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Diese Möglichkeit nutzte mein Mann.
Sein Antrag auf Zivildienst wurde allerdings abgelehnt, da er nach damals geltendem Recht bereits zu alt dafür war. Ein Nachteil war dies allerdings nicht für ihn, denn es eröffnete ihm die Möglichkeit, nach einem halben Jahr Armeezeit wieder in seiner Heimatstadt zu sein und in seinem alten Betrieb zu arbeiten.
Mittlerweile sind wir zweifache Großeltern. Unser Sohn ist dem Osten treu geblieben, er lebt mit seiner Familie 90 Autominuten von uns entfernt. Und obwohl es 30 Jahre her ist, hat sich die Zeit um den 9. November 1989 so in unser Gedächtnis eingebrannt, als wäre es erst gestern gewesen. (mz)