Quedlinburg Quedlinburg: Alles für die Kinder
QUEDLINBURG/MZ. - Urs Hähnel feuert den Kamin in der großen Halle an. Der einladende Sessel neben dem Feuer ist noch leer; er gehört an diesem Nachmittag Christine Vogeley, die ein Stockwerk höher noch ihren Tee genießt. Sie sitzt mit Hähnels Frau Sigrun und den drei Söhnen der Familie am Küchentisch und wirkt dabei wie ein Gast aus dem Märchenland: Ihr schwarzes Kleid, der kleine Spitzenschleier und die fingerlosen Handschuhe aus feiner schwarzer Spitze verkörpern echte Biedermeiermode - so etwas haben Frauen vor rund 150 Jahren getragen.
"Das ist zum größten Teil original", sagt Vogeley. Die Kinder, denen sie in jedem Winter beim "lebendigen Adventskalender" rund um den Quedlinburger Schlossberg Märchen vorliest, kommen daher auch nicht nur wegen der fantasievollen Geschichten ins Staunen. Allein die Erscheinung ihrer Erzählerin erregt schon Aufmerksamkeit, denn Reißverschlüsse oder Knöpfe gibt es an Christine Vogeleys Kleid nicht. "Ich kann beim Vorlesen aus den Augenwinkeln sehen, wie die Kinder sich da herantasten. Aber die Erwachsenen erleben das genauso."
Seit sieben Jahren ist die Gaterslebenerin als Geschichtenerzählerin beim "lebendigen Adventskalender" in Quedlinburg dabei. Als Mitglied des Blumenmesse-Vereins habe sie damals Hans-Jürgen Furcht, den Organisator des "lebendigen Adventskalenders" kennen gelernt. "Er sagte zu mir: 'Ich brauche da noch jemanden, und du bist die richtige.' Er ließ mir gar keine Wahl", sagt sie lachend.
Bei einem Auftritt pro Saison bleibt es nicht - in diesem Jahr hat sie schon das Märchen vom Sterntaler vorgelesen, am vergangenen Sonntag "Schneewittchen und die sieben Zwerge" vorgetragen, und am kommenden Sonntag steht noch "Der gestiefelte Kater" auf ihrem Terminkalender.
Und auch beim Vorlesen allein belässt es die geschichtenbegeisterte Frau nicht. Am vergangenen Freitagabend habe sie noch an der Nähmaschine gesessen, erzählt sie. "Da habe ich an den Zwergenkostümen gearbeitet. Ich muss mich dann gedanklich drauf einstellen, wie die wohl aussehen könnten." Sie legt die Spitzen von Daumen und Zeigefinger zusammen und macht eine Handbewegung: "Beim Einfädeln des Garns muss mir immer jemand aus der Familie helfen, wer gerade da ist."
Acht Zipfelmützen, acht Umhänge und acht Bärte hat Christine Vogeley gezaubert. Eigentlich sind es im Märchen ja nur sieben Zwerge, aber dieses Mal wollten neun Kinder mitspielen: Richard, Mathilda, Tavi, Sarah, Alrik, Jarl, Carl-Otto, Hannes und Adele - sie ist das Schneewittchen - sind zwischen drei und neun Jahre alt, kommen aus Quedlinburg und Neinstedt und bekommen an diesem Nachmittag noch eine Extra-Geschichte vorgetragen.
"Ich habe die bekannten Märchen immer in kürzerer Form geschrieben, aber seit 2010 schreibe ich auch selbst Geschichten für den Adventskalender", erzählt Vogeley. Geschichten, die die Gaterslebenerin selbst erlebt haben könnte - und die sie mit einem märchenhaften Hauch verzaubert. So hat ihr eine Wildgans goldene Federn da gelassen, die Christine Vogeley an die Kinder verschenkt. Das funktioniert auch mit goldenen Muscheln, die von einer kleinen Nixe gebracht wurden, oder mit funkelnden Kieseln, die Schneewittchens Zwerge "in Heimarbeit" sortieren, wie sie später der großen Schar kleiner und großer Zuhörer erklären wird.
Die Zeiger der Uhr gehen auf halb fünf. Höchste Zeit für Christine Vogeley, hinunter in die große Halle zu gehen und im Sessel Platz zu nehmen. Zuvor schlägt sie noch kurz ihr großes, selbst gebasteltes Märchenbuch auf. "Da waren früher mal Weinflaschen drin", sagt sie und klappt den Pappkarton auf, der sich dank Goldfolie und braunem Papier in einen Folianten verwandelt hat. "Ich dachte mir, daraus könnte ein schönes Märchenbuch werden."
Bei dem Anblick kommen die Jungs am Küchentisch ins Staunen. Dann tauchen auch sie ein in die Märchenwelt und werden mit Zipfelmütze, Bart und Umhang zu Zwergen - bis auf Sigurd, den Jüngsten, der selbst für diese Rolle noch zu klein ist.
Zum dritten Mal verwandelt sich das Zuhause der Hähnels in ein Fenster des "lebendigen Adventskalenders". "Das ist eine schöne Sache, so drumherum ums Schloss", sagt Sigrun Hähnel, "und wir machen mit, weil wir uns mit dieser Stadt verbunden fühlen. Und es gehört zum Haus."