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Nordharzer Städtebundtheater Nordharzer Städtebundtheater: "Zeit im Dunkeln" immer noch aktuell

Von Uwe Kraus 22.02.2016, 20:10
Mona Lunana Schneider, Julia Siebenschuh und Gerold Ströher (v.l.) in „Zeit im Dunkeln“.
Mona Lunana Schneider, Julia Siebenschuh und Gerold Ströher (v.l.) in „Zeit im Dunkeln“. Städtebundtheater/Jürgen Meusel

Quedlinburg - Das Psychogramm der Hilflosigkeit und des Schmerzes, in der Neuen Bühne vom Regisseur Jonathan Failla durch eine Pause fast auf zwei Stunden gedehnt, lässt es beinahe vergessen: „Zeit im Dunkeln“ hat fast 15 Jahre auf dem Buckel.

Henning Mankell schuf eine damals wie heute durchaus umstrittene Vorlage, deren Substanz gegenwärtig wohl so aktuell wie nie ist: Flüchtlingsschicksale nicht per TV oder auf der Straße, sondern hinter Wänden. Hinter denen sich Vater (Gerold Ströher) und Tochter (Mona Luana Schneider) hoffend verkriechen und auf neue Papiere warten. Tag um Tag, die Tochter mit Außenkontakt durch das Abarbeiten der Einkaufslisten, der Vater immer stärker in Isolation und eine eigene Gedankenwelt abgleitend.

Wo befindet sich ihr Wartezimmer? In Schweden, wie in der Textvorlage? Egal, es könnte ein Plattenbau in Halle-Neustadt oder eine Absteige im Harz sein. Wie sie heißen? Inona wurde das Mädchen nach dem Wunsch der toten Mutter genannt, nun suchen sie wie nach einer neuen Heimat nach einem neuen Namen. Woher sie kommen? Das Kopftuch deutet auf den islamischen Raum hin. Die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland, bei der die Mutter ertrank, Erinnerungsfetzen, das Versteck unter stinkigen Rinderfellen; Flüchtlingsschicksale, wie sie heute auf jedem TV-Kanal zu sehen sind.

Eindringliche Auftritte

Nach „End Days“ nimmt sich Jonathan Failla am Nordharzer Städtebundtheater erneut eines aktuellen wie sehr politischen Stoffes an. Wie unter einem Brennglas fließt in dieser schlichten Unterkunft aus 80 Regalwürfeln (Ausstattung: Franziska Boos) all das zusammen, was alte Heimat und neue Nicht-Heimat prägen.

Irgendwann merkt die Tochter, die Schlepper haben sie verarscht, es kommt niemand mehr, der ihnen Papiere und einen Namen bringt. Der väterliche Traum von Kanada oder Australien, wo gute Tischler wie er immer gebraucht werden, verdampft in dieser abgestandenen Luft bedrückender Enge. Die Tochter erkennt: „Nichts stimmt mehr, seit wir in Europa sind. Hier haben alle Lügen angefangen.“

Es passiert kaum etwas in „Zeit im Dunkeln“. Nach den eindringlichen Flucht-Tönen des Beginns wie in einer Endlosschleife: Anwürfe, Misstrauen, Angst, Schläge, Einkaufen, Schlafen, Reis mit Gemüse und Tee. Quälende Dialoge, ein ums andere Mal. Inona nimmt es dem Vater übel, im entscheidenden Moment auf irgendeinem Seelenverkäufer im Mittelmeer die Hand der Mutter losgelassen zu haben.

Jonathan Failla holt die Tote in persona von Julia Siebenschuh, als Kontrast und Reminiszenz an bessere Zeiten traditionell mit Kopftuch, Schmuck und gutem Kleid, ins Geschehen. Wenn niemand da ist zum Reden, spricht man mit stummen Toten, mit dem Hochzeitsbild, das die Tochter durchs Klo spült, um jegliche Identitätsspur zu verwischen. Oder man träumt vom Menschen, der einst die Familie prägte. Sehr eindringliche Auftritte, die da Julia Siebenschuh bietet.

Wie Touristen auf Abschiedstour vom Selbstbetrug

Mona Luana Schneider sucht das Ankommen, schneidet sich die Haare ab, vergräbt sie zur Hälfte hinter der Döner-Bude wie als Humus für ein daraus erwachsenes neues Leben. Sie gewinnt Selbstbewusstsein, löst sich aus den patriarchischen Strukturen, wird zur Bestimmerin im Familien-Duo. Ihr Vater, in einer Szene splitternackt, weil er alles verloren hat, Heimat, Frau und unterdessen selbst die letzte Hoffnung.

Gerold Ströher spielt diesen leicht schmuddeligen Typen, der zwanghaft Schuhe putzt und seine Tochter mit widersprüchlichen Anweisungen traktiert, der unter einer wärmenden Decke zittert, aus Angst vor Verfolgern auch tausende Kilometer vom alten Zuhause entfernt.

Trotz des Bemühens der Darsteller - was „Zeit im Dunkeln“ ihnen an Textmaterial anbietet, wirkt tragisch. Jahre nach dem Erscheinen und Millionen Flüchtlinge später gibt es keine Antworten, nur bedrückendes Geplänkel. Was Kunst nicht von Politik unterscheidet.

Failla lässt Tochter und Vater aus dem Warteraum heraustreten. Wie Touristen auf Abschiedstour vom Selbstbetrug flanieren sie durch die Außenwelt. Ankunft in der neuen Welt?

Nächste Vorstellung mit Nachgespräch am 25. Februar, 19.30 Uhr, Kammerbühne Halberstadt. (mz)