Musical "Cabaret" Musical "Cabaret": Starke Untertöne am Nordharzer Städtebundtheater

Quedlinburg - Der Premierenvorhang hebt sich für John Kanders und Fred Ebbs Musical „Cabaret“ in der Chris-Walker-Fassung, in die die beiden Filmsongs „Maybe This Time“ und „Money“ einfließen. Der rundliche Conférencier (Tobias Amadeus Schöner) schreitet keine erleuchtete Showtreppe hinab, nur riesige Buchstaben verkünden „C-A-B-A-R-E-T“. Die Inszenierung braucht kaum mehr als diese Lettern, die variabel zum Einsatz kommen. Sie stürzen beim Überfall auf den Obstladen um, sind Sitzbank, Arena, Liebesnest: Odilia Baldszun (Kostüm und Bühne) spielt fast bis zur Ermüdung mit dem Um-, Auf- und Wegbauen.
Was Wolfgang Dosch auf die bunt umleuchteten Bretter bringt, wirkt auf den ersten Blick recht unspektakulär und ist doch mit zerbrechlichen Zwischentönen so ergreifend und erhellend über eine dunkle Zeit. In großer Dichte entblättert Dosch, der keineswegs nur ein begnadeter Regisseur leichter Muse ist, seine Akteure.
Hervorragender Cast
Plötzlich fühlt man sich im Hier und Heute, wenn es um Willkommenskultur geht und das berühmte „Willkommen, bienvenue, welcome“ erklingt. Ein großes Plus der Inszenierung ist der hervorragende Cast, eine „ausgesprochen ideale Besetzung für das Stück“, sagt Dosch. Doch durch seinen plötzlichen Tod fehlt Ingo Wasikowski, der noch zwei Wochen zuvor die Rolle des Schriftstellers Cliff Bradshaw probte.
Lutz Standop hat in wenigen Tagen diese Rolle beeindruckend einstudiert und macht an der Seite von Katja Uhlig mit stimmlichem Format in seinem Rollen-Debüt eine prima Figur. Uhlig kennt das hiesige Publikum bereits als Crissy in „Hair“. Als leichtlebige Nachtclub-Sängerin Sally Bowles legt sie einen beeindruckenden Drahtseilakt zwischen Romantik, Schlichtheit und Nicht-sehen-wollen hin. Sie steht für viele, die verdrängen und nicht die Misstöne hören, die sich immer stärker in die Inszenierung des Lebens einschleichen.
Traumwelt verloren
Schleichend träufelt das Gift und breitet sich aus; erst eine Hakenkreuz-Armbinde, dann Gegröle und der demolierte Laden des jüdischen Händlers. Am Ende marschieren fast alle im Gleichschritt, und die Variete-Klänge werden stramm intoniert. Längst hat die Traumwelt des Kit Kat-Clubs die Unschuld verloren.
Mit Katja Uhlig hat Dosch eine Sally Bowles mit Wandlungsfähigkeit, Stimmkraft und Ausstrahlung, die bekannte Songs zu der von Streicher-Pathos befreiten Musik der 14 Künstler im Orchestergraben (Leitung Florian Kießling) ganz eigen interpretiert.
Liza-Minelli-Film und CD, man glaubt die Nummern zu kennen - doch in Quedlinburg entfalten sie einen Klang, mit dem sie eben keine Showeinlagen sind, sondern Geschichten erzählen.
Nochmals Tempo
Das betrifft Bettina Pierags als Fräulein Schneider und den Herrn Schultz von Norbert Zilz, die wie Tobias Amadeus Schöner ihre klassisch ausgebildeten Stimmen von jedem Bombast entledigen und bei optimaler Textverständlichkeit so bestens in den Ohren klingen. Pie-rags und Zilz beeindrucken mit gewisser Würde als tragisches Paar: die altjüngferliche, strickende Schlummermutter Schneider und der rührend um sie bemühte jüdische Obsthändler Schultz, deren Miteinander resignierend an den Zeiten zerbricht.
Die Liebesgeschichte endet ebenso unglücklich wie die von der außergewöhnlichen Engländerin Sally und dem erfolglosen amerikanischen Schriftsteller Clifford Bradshaw. Sie treibt das gemeinsame Kind ab, damit ihre Show weitergeht, er verlässt enttäuscht Deutschland.
Wolfgang Dosch konstruiert das Musical straff durch, fast fürchtet man, die Pause zerreißt den dramaturgischen Bogen. Doch ganz im Gegenteil, das Stück nimmt danach nochmal Tempo auf.
Stürmischer Applaus
Wesentlich zum Gelingen des Abends tragen in den Massenszenen der Chor und das von Gabriella Gilardi zeitgerecht choreografierte Ballett bei, das Varieté-Atmosphäre verbreitet. Gilardi selbst spielt neben Thea Rein ein Sologirl, während Marlies Sturm als Fräulein Kost die Matrosen ganzer Flottillen empfängt. Als der Wind sich nach rechts dreht, singt sie stramm völkisch in BDM-Tracht mit Ernst Ludwig (Klaus-Uwe Rein), der für die NSDAP mit Hilfe gutgläubiger Ausländer Devisen aus Frankreich nach Deutschland schmuggelt, das Lied von den Hirschen, die im deutschen Hain grasen. Und all die Varieté-Gäste und Akteure fallen ein. Der Conférencier spuckt aus.
Wir Nachgeborenen wissen, wie es weitergeht. Nach Sekunden des Erstarrens bricht in der mäßig besuchten Premiere der stürmische Applaus los. (mz)
Nächste Vorstellungen: 9. November, 15 Uhr, 15. November 19.30 Uhr (jeweils Halberstadt) und 29. November, 19.30 Uhr Quedlinburg