Landkreis Harz Landkreis Harz: Wehe dem, der hustet oder lacht
THALE/MZ. - In Thale scheint es viel Viehzeug zu geben, das der Halter nicht aus den Augen lassen darf. Ob es vorwiegend beißfreudige Kampfhunde oder exaltierte Karthäuser sind, edle Zuchtbullen oder gemeine Hausmäuse, weiß Heinz A. Behrens nicht. Doch: "Die Bevölkerung ist verpflichtet, bei einem Gerichtstag anwesend zu sein - bis auf die Leute, die auf das Vieh aufpassen", betont der Fachmann.
Er muss es wissen: Denn manchmal setzt sich der Timmenröder Historiker den mittelalterlichen Richterhut auf und hält Gericht in seinem "Reich", das mit dem Thalenser Kloster Wendhusen identisch ist. Und weil Behrens und die von ihm geleitete Nordharzer Altertumsgesellschaft aus den altehrwürdigen Mauern ein "Zentrum für lebendige Geschichte" machen, können historisch Interessierte hier nun auch in die frühmittelalterliche Rechtsprechung eintauchen.
Drei Tage zuvor gab es an gleichem Ort die Theorie. Anhand des legendären "Sachsenspiegel"-Rechtsbuches und seiner Bildstreifen vermittelte Behrens "das Grundwissen", wie er sagte. Jetzt wollte er mit einigen Vereinsaktivisten die Rechtspraxis zeigen, in "zwei Szenen mehrfach Rechtsvorgänge nachspielen aus dem normalen ländlichen Leben im alten Dorf Wendhusen". Seine Vorträge, so Behrens, stoßen auf großes Interesse. "Doch es fehlt die Lebendigkeit, die Leute können sich das ohne szenisches Spiel kaum vorstellen", ist der Historiker überzeugt. Und so bietet er auch Geschichte zum Anfassen, Erleben und Mitmachen.
Eigentlich fanden solche Gerichtstage immer unter freiem Himmel satt. Das neuzeitliche Wetter zwang Gericht und Volk allerdings in die klösterliche Magazinscheune und damit an den erstmals öffentlich befeuerten Backofen. Die Zahl der Thalenser, die nicht auf zweifelhaftes Vieh aufpassen mussten, war erwartungsgemäß begrenzt. Immerhin brachte mancher seinen (Schoß-)Hund mit. Bellen durfte der Vierbeiner natürlich nicht, auch das Volk wurde belehrt, dass es weder "schneuzen, husten, lachen oder gar nach einer Fliege schlagen" dürfe. Denn solch' rohes Fehlverhalten störe den Gerichtsfrieden. Wer trotzdem bellt oder gackert, prustet oder eine Mücke züchtigt, wird sofort bestraft und muss ein "Gewette", ein deftiges Bußgeld, zahlen.
Die vier Schöffen waren eigentlich Männer des 21. Jahrhunderts, die zuvor außerhalb des Gerichtskreises saßen und sich nur als Zaungäste sahen. Frauen dürfen den magischen Kreis, der als Immunitätsbereich gilt, ohnehin nur als Zeugen betreten. Aber alle mussten ihre Schwurhand auf einen Reliquenschrein legen und sich damit verpflichten, die Wahrheit zu sagen. Bei einem Meineid drohte ein blutiger Axthieb. "Urteile werden nicht gefällt, sondern gesucht und gefunden", stellte der Chef-Richter von vornherein klar. Und: "Vollstreckt wird sofort und an Ort und Stelle".
Eigentlich ist Tim Spröggel ein Musikant, blies und trommelte auch an diesem Tage bei und mit "Sonitus Magicus" . Doch diesmal war er auch Schultheiß und damit Vollstrecker, ein gräflicher "Rechtspfleger", der "die Schuld heischt". Spröggel trug eine schwere Keule, hätte also den Eric Morcinek ohne großen Prozess auch erschlagen können. Doch dem 21-jährigen Dieb drohte der Tod durch Erhängen. Der dreiste Räuber hatte vor aller Augen einer Handwerkerin (Sarina M. Lesinski) einen Bogenköcher entrissen. Die panische Flucht scheiterte, das Flehen der kleinen Schwester blieb folgenlos. Und die holde Brettchenweberin fand mit "Herrn Heinrich, dem besten Bogenschützen des Regensteiner Grafen" (Dirk Achtzehn), einen prominenten Fürsprecher. Zum Entsetzen der Zuschauer verlangte Schultheiß Spröggel "mehr als sieben Zeugen". Kneifen war nicht möglich, jeder hatte die Schandtat gesehen. Und Richter Behrens schien erbarmungslos: "Die Verweigerung der Zeugenschaft wird schwer geahndet". Acht Frauen sahen sich schließlich genötigt, in den Kreis zu treten, in dem mancher Gatte schon als Schöffe saß. Das Todesurteil konnten auch sie nicht verhindern. Gottlob zeigte sich Graf Bernhard von Regenstein (Bernd Lesinski) gnädig und machte den jungen Mann - nach Begutachtung von Gebiss und Armmuskulatur - zu seinem Leibeigenen. Die Schwester gab es "dank ihrer Jugend und der wohl geformten Gestalt" als Zugabe.
Nur wenige Minuten dauerte die Verhandlung gegen eine Umwelt-Sünderin, die es aus illegalem Ofen und ihrem als Aschedeponie missbrauchten Garten atemberaubend qualmen ließ. 20 Schillinge wurden da fällig, laut Behrens-Wechselkurs etwa 40 Euro. Die Beseitigung des Missstandes sollte "in zweimal sieben Tagen" erfolgen. Interessant für rauchgeplagte Nachbarn unserer Zeit. Doch auf die Frage von Richter und Schultheiß, ob es im Publikum weitere Klagen gebe, meldete sich niemand. Bei der Ausgabe des warmen Brotes war das Volk weniger zögerlich. Mancher spannte auch den traditionellen Bogen und schoss - vielleicht sogar auf imaginäre Diebe. Wenn schon ein Ausflug ins Mittelalter, dann sollte es ein Trip für alle Sinne sein.