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Landkreis Harz Landkreis Harz: Stahlbären zwischen Granaten

Von STEPHAN NEEF 15.01.2009, 18:25
Entschärfte Granaten der früheren deutschen Wehrmacht. (Altmarkkreis Salzwedel). (Foto: dpa)
Entschärfte Granaten der früheren deutschen Wehrmacht. (Altmarkkreis Salzwedel). (Foto: dpa) dpa-Zentralbild

THALE/MZ. - Die Brache des ehemaligen, zwischen Wolfsburg- und Roßtrappenstraße gelegenen "Lagers Wiese" wird wieder für Industrie-Ansiedlungen nutzbar gemacht (die MZ berichtete). Voraussetzung sind aufwendige und millionenschwere Erdarbeiten, die am 30. Juni 2008 begannen - zum Beispiel die Abtragung eines alten, 50 Meter breiten Bahndammes. Acht Tage nach dem Baustart "stolperte" der Bagger erstmals über ominöse Metallteile - Munitionsreste aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Magdeburger Kampfmittelbeseitigungsdienst (KBD) wurde gerufen, erstmals wunderten sich die Anwohner über ein vielköpfiges Polizei-Aufgebot, das die Baustelle belagerte und inspizierte.

Beispiellose Fundserie

Niemand ahnte, dass das nur der Beginn einer für Thale bisher beispiellosen Fundserie war. Allein am 25. August bargen die Experten "28 Stück einer Sorte Wurfgranate", sagte Polizeihauptkommissar Axel Voesterling, Pressesprecher des Technischen Polizeiamtes Magdeburg, auf Anfrage der MZ. Am 19. November wurden 150 Kilo Munitionsteile gefunden, "die man nicht differenziert", wie Voesterling ergänzt. Inzwischen seien 51 Spreng- und Wurfgranaten sowie zwei Panzergranaten ausgegraben worden. Auf den bislang größten "Brocken" stießen die Bauarbeiter am 26. November - eine Fünf-Zentner-Bombe. "Doch da war nichts drin, das Gewicht ist nur eine Größenbezeichnung", konkretisiert der Polizei-Fachmann. Auch die Granaten und Munitionshülsen seien "alle leer gewesen, ohne Explosivstoffe oder eine explosionsfähige Füllung". War zuerst von einem Einzelfund die Rede, spricht die für die Bearbeitung der Bergungsanträge zuständige KBD-Mitarbeiterin Runge-Scholz nun von einer ungewöhnlichen "Häufung von Einzelfundstellen", die eine systematische Untersuchung der betroffenen Fläche erforderlich machen würde. Weil es sich oftmals um Aufschüttungen handele, sei der KBD dazu "technisch nicht in der Lage". Damit müsste eine Spezialfirma beauftragt werden.

Die Kosten würde der Bauherr und damit die Stadt Thale tragen müssen, weiß Georg Türke, Leiter des kreiseigenen Amtes für Brand- und Katastrophenschutz. "Das könnte ein Streitpunkt werden", ahnt Türke. Vorerst beschränken sich alle Beteiligten offensichtlich auf den Minimalschutz für die Baggerfahrer. Auf Vorschlag der betreffenden Baufirmen, Engel Badeborn und RST Recycling Sanierung Thale GmbH, sei an der Baggerfront eine Schutzverglasung installiert worden, informiert Christina Wache, zuständige Sicherheits- und Gesundheitsschutz-Koordinatorin. Einen allumfassenden Schutz für die Bauarbeiter gebe es nicht. "Wir können schließlich keinen Räumpanzer einsetzen." Allerdings, so Wache, erfolge die Abgrabung nun "in einem anderen zeitlichen Rahmen" in anderen Tiefen, auf enger begrenzten Flächen und mit geringerem "Massenumsatz". "Denn das Gefährdungspotential wird nicht weniger", ist Wache überzeugt.

Hauptkommissar Voesterling glaubt allerdings, dass eine Sicherheitsverglasung der Frontscheibe keinen wirksamen Splitterschutz biete und bei einer Explosion zerberste. Effektiv sei nur der Einsatz von Spezialfahrzeugen wie Räumpanzern, die dann gezielt sondieren und graben müssten.

Größenordnung überrascht

Und wie konnte das vier Hektar große Lagergelände zu einem Granaten-Acker werden? "Die Voruntersuchungen ergaben keinen Verdacht auf Kampfmittel", sagt Thales Bauamtsleiter Dr. Guido Bloßfeld. Deshalb sei die Verwaltung "über die Größenordnung der Funde überrascht". Der Fund der Bombe hat schließlich "mich und alle stutzig gemacht", räumt Bloßfeld ein. Laut Bombenkataster sei das Areal kein Bombenabwurfgebiet. Das Terrain gehöre zum "Urgelände" des Lagers. Da sei - noch vor der Aufschüttung - neben Kohle auch Schrott zwischengelagert worden, weiß Walfried Hoppe, der das EHW-Stahlwerk von 1960 bis 1991 leitete. "Alte Pistolen und andere Waffen wurden unter Volkspolizei-Bewachung eingefahren", erinnert er sich. Eine Granate sei in einem Siemens-Martin-Ofen explodiert und habe einen Stahlwerker in den Tod gerissen, ergänzt Ernst Günther, von 1955 bis 1991 Schichtleiter und Technologe im Stahlwerk. "Wo sollten Granaten, nachdem sie entschärft wurden, denn sonst landen, wenn nicht in einem Stahlwerk?", fragt er. Zwar habe es intensive Schrott-Kontrollen gegeben, aber keine Fahndung nach Munition. Ganze Schrottzüge seien nach Kriegsende ins Werk gerollt, tausende Tonnen mussten im Lager Wiese provisorisch "geparkt" werden, erinnert sich Hobby-Historiker Werner Schatz. Nicht alle dieser Kriegshinterlassenschaften waren offenbar harmlos, wie zahlreiche Wohnungsbrände zeigten. Beim "Kohlen-Klau" sei manchem Sammler ein Zünder in den Eimer gerutscht, berichtet der einstige Hütten-Feuerwehrmann der MZ. Und Günther weiß von Kindern, "die mit Handgranaten gespielt haben". Christina Wache will nicht ausschließen, dass solche Granaten aus der EHW-Produktion stammten, "durch die Gütekontrolle fielen, auf dem Schrott landeten und dort liegen blieben". Nicht liegen blieben die oft tonnenschweren "Stahlbären" - monumentale Gießreste, auch Nachlaufeisen genannt - die im Bahndamm verbaut wurden, als dessen Breite aufgrund neuer Gleisanschlüsse verfünffacht wurde. Nun, nach jahrzehntelangem "Schlaf", brachten die Stahlbären kraftstrotzende Bagger "an ihre Grenzen", gesteht Bauplaner Uwe Thielecke. Zum Glück beißen Stahlbären nicht. Und sind auch nicht explosiv.