Die verlorenen Zähne als Werbungsblocker
Gernrode/MZ. - Betreffs meiner Anneliese hatte ich mit meinen Eltern alles besprochen und so weit geklärt, dass ich sie zu uns holen sollte. Aber einige gute Freunde erklärten mir, dass es im Augenblick besser wäre, wenn sie erst mal nach Westdeutschland führe. Ich gestehe, ich verstand nicht so richtig.
Ich konnte die damalige politische Lage noch gar nicht einschätzen. Zudem konnte ich aufgrund meiner Beauflagung den Ort nicht verlassen und schon gar nicht mit der Angst meiner Mutter im Nacken nach Bischofswerda fahren. Nach ca. zwei Wochen erschienen zwei Herren, einer davon in Uniform und wollten mich sprechen. Meine Mutter war einem Nervenzusammenbruch nahe und glaubt, man wolle mich wieder abholen. Mein Vater ging nicht von meiner Seite. Ich für meinen Teil hatte sofort einen Plan, die kriegen dich nicht! Doch das Gespräch hatte einen anderen Inhalt, als wir angenommen hatten. Man machte mir den Vorschlag, da ich doch politisch umerzogen worden wäre, zur Kasernierten Volkspolizei zu gehen. Mir stände der Aufnahme an einer Offiziersschule nichts im Wege. Mir würden sozusagen alle Möglichkeiten zur steilen Karriere geboten. Auf den Verweis meiner verlorenen Zähne und unter welchen Umständen ich sie verloren hatte, beendeten sie das Gespräch sehr schnell. Meine Mutter lebte ständig in Angst, dass man mich wieder abholen könnte.
Als ich wieder einmal zur Meldung auf dem Amt war, rief mich der Bürgermeister zu sich, er war eine Vaternatur und fragte mich: "Junge, warum machst du dir das Leben so schwer? Mir machst du es auch nicht leicht". Daraus schlussfolgerte ich, dass ich doch immer unter Kontrolle stand. War ich wirklich zu Hause? Diese Frage stellte ich mir oft. Ich wollte wieder fort, irgendwohin, wo man mich verstand. Doch wo war das? Meine Mutter, deren Gesundheitszustand nicht sehr rosig war, a sich unter meiner Verhaftung auch schwer gelitten hatte, bettelte förmlich, bleib doch zu Hause, denk doch an uns. Und ich blieb! Eine Woche nach dem wir von Bischofswerda abgefahren waren, fuhren dann auch unsere Kameraden aus Westdeutschland nach Hause. Anders wie wir wurden sie erst einmal herzlich empfangen und begrüßt.
Sie waren dann noch einige Zeit zusammen, um über alle notwendigen Formalitäten unterrichtet und auf das leben in Freizeit vorbereitet zu werden. Nach einiger Zeit erhielt ich von einem Freund Willi Lerch, mit dem ich mich in der Gefangenschaft gut verstanden hatte, einen Brief, in dem er mir mitteilte, dass er sich mit Anneliese angefreundet hatte und ich sollte doch nicht böse ein. Sie haben dann auch später geheiratet. Ich schrieb ihnen einen Brief und war ihm und ihr nicht böse. Ich wusste, sie hatte ein Zuhause gefunden und das war für mich wichtig. Obwohl wir uns nur ein paar Monaten kannten, habe ich die Erinnerung an sie nie ganz verloren. Von einer sehr guten Freundin aus dieser Zeit, Erika Ansorg, erfuhr ich, dass sie leider vor ein paar Jahren verstorben ist. Ein Andenken von ihr halte ich heute noch in Ehren. Es ist ein Pullover, den sie mir mal aus Wickelgamaschen und einem Zuckersack gestrickt hatte. Schwer war auch die Zeit des Eingewöhnens. Viel haben dabei die politischen Begleitumstände beigetragen. Die Heimat hatte ich mir eigentlich anders vorstellt. Heimatland war in Gedanken, sicher nicht nur für mich allein, Geborgenheit, Sicherheit und Schutz. Vielleicht waren meine Erwartungen auch zu hoch, denn unsere Heimat war ja ein Satellit des Kommunismus, aus dem wir glaubten gerade entkommen zu sein. Die Zeit war geprägt von den neu Kommunisten, von denen ich vor 1945 nie etwas gehört hatte. Es waren meine Sport- und Jugendfreunde, die mich in ihre Mitte nahmen und mir halfen, langsam Fuß zu fassen. Lange noch war ein Stück Papier mein staatliches Personaldokument, welches beim notwendigen Gebrauch immer wieder Anlass zur Beantwortung vieler mir unverständlicher Fragen führte. Ich musste immer genau überlegen, um die mir auferlegte Schweigepflicht nicht zu brechen. Denn ich durfte über meine Vergangenheit nicht sprechen oder berichten.