Dorfreport Dorfreport: Jung geblieben

Ich weiß ein kleines Städtchen, die Straßen eng und schmal, mit bunten Häuserreihen, gestreckt im tiefen Tal“, beschrieb vor 100 Jahren Schulrektor Magnus sein Stolberg in einem Reiseführer. Es ist das reizvolle Tal der Thyra mit seinen zahlreichen Wandermöglichkeiten. Steil steigen die Berge hinter den Häusern der Kleinstadt an, welche heute etwa 1300 Einwohnern zählt. Sie bildeten einst einen natürlichen Schutzwall um die mittelalterliche Stadt, deren Einwohner sich damit den aufwendigen Bau einer Stadtmauer ersparen konnten. Das jeweilige Ende des Tals wurde recht einfach durch ein Stadttor gesichert. Das um 1640 erneuerte Rittertor ist noch heute erhalten.
Ertragreicher Eisen-, Silber- und Kupferbergbau stand am Anfang der Ortsgeschichte. Stolbergs Blütezeit fällt in die Zeit des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Mit der geringer werdenden Erzausbeute endete die Hoch-Zeit des Ortes, der auch über wichtige Münzprägestätten verfügte. Ein weitblickender Bürgermeister siedelte im 17. Jahrhundert süddeutsche Weber an, um die arbeitslos gewordenen Bergleute „umzuschulen“. Zeitweilig spielte danach das handwerkliche Textilgewerbe eine gewisse Rolle vor Ort.
Mit Eisenbahn kamen Sommerfrischler
Die Industrialisierung machte offensichtlich einen großen Bogen um Stolberg, das ab 1815 zur Preußischen Provinz Sachsen gehörte. Eine Eisenbahnstrecke berührte lange Zeit nur die Nachbarschaft, und erst 1923 hielt der erste Zug im Sackbahnhof am Anfang des Ortes. Trotzdem hatte die teilweise Erschließung des Thyratals durch die Preußische Eisenbahngesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum erheblichen Aufkommen des Fremdenverkehrs auch in Stolberg geführt. Noch 1867 hatte der Stadtchronist nur stolze 40 Sommergäste vor Ort gezählt, deren Zahl bis zur Jahrhundertwende aber rasant anwuchs. Zu den prominentesten erholungssuchenden Sommerfrischlern in dieser Zeit gehörte 1877 erstmals der Naumburger Richard Lepsius (1810-1884), der danach mehrfach in Stolberg weilte. Der Begründer der modernen Ägyptologie war inzwischen als Direktor des Ägyptischen Museums und Direktor der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin tätig. Stolz warb später die Stadt Stolberg mit dem „berühmten Ägyptologen“ als Mitbegründer des Fremdenverkehrs vor Ort, der sicherlich den Ruf des schönen Bilderbuchstädtchens in die deutsche Hauptstadt getragen hatte.
Stadt der Fachwerkfassaden
Geprägt ist das Stadtbild von Stolberg bekanntermaßen durch seine zahlreich erhaltenen Fachwerkhäuser mit ihrem reizvollen Wechselspiel von Holzteilen und farblicher Behandlung. Viele dieser Häuser sind vor allem in der Blütezeit des deutschen Fachwerkbaus zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert gebaut worden. Besonders die holzreichen Harzstädte wie Stolberg, Quedlinburg, Nordhausen, Wernigerode oder Goslar bildeten eines der Zentren der Fachwerkkultur in Deutschland. Das Haus „Kaltes Tal 3“ in Stolberg trägt die Jahreszahl 1469 über dem Portal und weist damit die älteste angebrachte Datierung für ein Fachwerkhaus in Sachsen-Anhalt aus. Flaniermeile und Hauptstraße ist die Niedergasse, an der sich ein Fachwerkbau an den anderen reiht, jeweils mit individuellen Geschichten verbunden. In einem der schönsten Fachwerkbauten der Stadt befindet sich in der Niedergasse das Museum „Alte Münze“ in einem Gebäude aus dem Jahr 1535. Zur Museumsausstellung gehört unter anderem eine original erhaltene Münzprägewerkstatt, die in dieser Vollständigkeit einzigartig in Europa ist. Ab und an werden auch Münzprägungen auf dem erhaltenen historischen Balancier für die Besucher durchgeführt.
In unmittelbarer Nachbarschaft zum Museum befindet sich der aus dem 13. Jahrhundert erhaltene Saigerturm. „Ausseigern“ nannte man das Abtrennen des Erzes in einer Schmelzhütte. Der auch in der Niedergasse befindliche Backwarenhersteller „Friwi“, mit einem Café und einem Werksverkauf verbunden, besteht inzwischen seit nahezu 125 Jahren. 1891 hatte Friedrich Wilhelm Witte mit der Produktion von Backwaren, besonders von Keksen begonnen. 1972 zwangsverstaatlicht, produzierte der „VEB Feingebäck“ in Stolberg für das „Delikat-Programm“ in der DDR. Seit 1992 wieder in Familienbesitz, wird die Erfolgsgeschichte des Stolberger Betriebes fortgeschrieben.
Nur noch ein jüngeres Gebäude aus dem 19. Jahrhundert steht an der Stelle eines abgebrannten Fachwerkbaus in der Niedergasse, in dem der berühmteste Sohn der Stadt, Thomas Müntzer, um 1489 geboren wurde. Der Theologe und Bauernführer im Deutschen Bauernkrieg, der 1525 unter anderem die „Stolberger Artikel“ für die aufständischen Bauern verfasst hatte, wurde nach der verlorenen Schlacht bei Frankenhausen 1525 geköpft. Ein bronzenes Denkmal für den Stolberger Müntzer nach einem Entwurf von Klaus Messerschmidt wurde 1989 vor dem historischen Rathaus aufgestellt.
Das Rathaus von Stolberg ist eines der kuriosesten Gebäude der Stadt. War es Vergesslichkeit oder Absicht des Baumeisters gewesen? Ohne Treppe errichtet, müssen Mitarbeiter und Besucher eine zur benachbarten Kirche hinaufführende Außentreppe benutzen, um in das gewünschte Stockwerk zu gelangen. Ursprünglich geplant und heute nicht mehr ganz vollständig erhalten, waren hingegen die Zahl der Rathausfenster, die der Wochenzahl des Jahres entsprechen, die Zahl der einzelnen kleinen Scheiben der Fenster, die der Anzahl der Tage im Jahr entsprechen und die zwölf Türen im Inneren, welche die Zahl der Monate im Jahr ergeben. Rechts und links des Rathauses führen Stufen zum Schlossberg hinauf, vorbei an der mächtigen Martinikirche, in der unter anderem Thomas Müntzer und Martin Luther gepredigt haben. Hoch über der Stadt thront das Schloss der Grafen von Stolberg. Auch nachdem im 15. Jahrhundert die Grafschaft Wernigerode durch Erbschaft erworben worden war, blieben die Grafen zumeist auf ihrer Anlage in Stolberg wohnen. Nach der Teilung der gräflichen Linie 1645 wurde das Schloss bis 1945 Sitz der Grafen und späteren Fürsten von Stolberg-Stolberg. Zwar unter sächsischer Lehnshoheit stehend und ab 1815 preußisch, blieben den Schlossherren zahlreiche Sonderrechte erhalten. Herausragende Persönlichkeit aus dem Geschlecht der Stolberger Grafen ist Juliana zu Stolberg (1506-1584), die Mutter des berühmten Wilhelm I. von Oranien (1533 – 1580), der „Vater des Vaterlandes“ der Niederlande. Den meisten Lesern ist der Nationalheld der Niederlande aus Goethes Werk „Egmont“ bekannt.
Wesentlich geprägt ist das Schlossensemble vor allem durch seine Bauteile aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst als Forstschule und ab 1954 als FDGB-Ferienheim „Comenius“ bestehend, sind heute einige inzwischen sanierte Teile der Anlage museal genutzt. Weitere Teile des Schlosses werden im Besitz und unter der Obhut der Deutschen Stiftung Denkmalschutz zur Zeit restauriert. Bis 2018 soll ein mondänes Schlosshotel im noch nicht restaurierten Teil der Schlossanlage fertig sein. Zu den Kostbarkeiten der bereits wieder zugänglichen Bereiche zählt der „Rote Salon“ im Südost-Flügel, der nach Entwürfen von Karl Friedrich Schinkel ausgestattet wurde und dessen erhaltenes klassizistisches Mobiliar beeindruckt.
Selbstbewusst trägt Stolberg den Beinamen „Historische Europastadt“. Diesen Titel führen einige Städte in Europa, die sich im besonderen Maße der europäischen Verständigung verpflichtet fühlen. Den allerdings nicht geschützten und selbstverliehenen Beinamen führen unter anderem auch Naumburgs Partnerstadt Aachen, Görlitz, Straßburg, Innsbruck oder Brüssel. 2010 wurde Stolberg zur Gemeinde mit dem unprosaischen Namen „Südharz“ eingemeindet. Die Tourismusinformation hat auch am Sonntag geöffnet, und zahlreiche Restaurants und Caféhäuser harren auf Gäste.
Mini-Theater mit Riesenzuspruch
Ein interessantes Konzept verfolgt seit 2011 das Künstlerehepaar Christiane und Mario Jantosch in einem am Markt gelegenen liebevoll restaurierten Fachwerkhaus. Das von ihnen betriebene „AndersWelt Theater“ Stolberg ist mit Geschmack und Fantasie eingerichtet. Ein „Märchencafé“ empfängt seine Gäste mit Speisen und Getränken und führt tatsächlich in eine andere Welt. Für individuelle Theatererlebnisse ist in der ersten Etage gesorgt. Etwa 40 Gäste passen in dieses kleine Theater, das damit noch kleiner als das Naumburger ist.
Die Veranstaltungsabende, die sich zumeist auf das Wochenende konzentrieren, gestalten die beiden Betreiber zumeist selber, laden aber auch häufig gastspielende Künstler ein. Passend zum Bühnenprogramm begleiten kulinarische Menüs die Abende. Der direkte Kontakt zwischen den Gästen und den Künstlern, die auch selber kochen, servieren, plaudern und Getränke ausschenken, scheint ein funktionierendes Rezept der nahezu immer ausverkauften Theaterabende zu sein.
Ja, und dann ist natürlich auch die schöne Harzlandschaft um Stolberg mit zahlreichen Wandermöglichkeiten zu nennen. Besonders Empfehlenswert ist ein Fußmarsch von Stolberg zum Großen Auerberg (580 Meter) mit dem bekannten Josephskreuz. Von diesem 38 Meter hohen Aussichtsturm überblickt man den Südharz und sieht bei gutem Wetter den Thüringer Wald, das Kyffhäusergebirge über der Goldenen Aue und in nordwestlicher Richtung den Brocken.
Eisernes Kreuz auf dem Auerberg
Schon im 17. Jahrhundert befand sich hier ein Aussichtsturm. Für den Stolberger Grafen Joseph entwarf 1832 der preußische Architekt Karl Friedrich Schinkel einen neuen hölzernen Aussichtspunkt in Form eines Doppelkreuzes an dieser Stelle. 1880 zerstörte ein Blitz das hölzerne Josephskreuz, für das 365 Eichenstämme verwendet worden waren. Als Ersatz wurde schließlich ein neuer, eiserner Kreuzturm in der Form des Vorgängers und nach dem Konstruktionsprinzip des Pariser Eifelturms errichtet. Rund 100000 Nieten halten die 123 Tonnen schwere Eisenkonstruktion zusammen, die 1896 eingeweiht wurde. Das damit schwerste und zugleich größte eiserne Kreuz der Welt wurde zu einer herausragenden Sehenswürdigkeit in der Region.
Unfern des Großen Auerberges befindet sich das Dorf Schwenda mit einer Kirche, die der Stolberger Hofbaumeister nach dem Vorbild der berühmten Dresdener Frauenkirche entwarf. Das malerische Fachwerk-Städtchen Stolberg in schöner Umgebung lädt ein zu einem Frühlingsausflug.

