Hilfsaktion Aus dem Krieg in der Ukraine - nach Naumburg
In 26 Stunden mit zwei Tonnen Spenden hin, mit zwölf Geflüchteten zurück. Tageblatt/MZ begleitet Transport.

Naumburg - Ihre Datsche vor den Toren der Stadt ist zerbombt, ihr angestammter Supermarkt ein Schlachtfeld. Und doch entscheiden sich Volodymyr Kowalski und Ehefrau Galina, in Kiew zu bleiben. Ihre Töchter Oksana und Jane sowie Enkelchen Lev (2) machen sich hingegen auf den Weg zur 620 Kilometer entfernten Grenze, wo sie am Samstag von einer Gruppe Naumburger Helfer aufgelesen werden. „Uns geht es gut, man kümmert sich bestens um uns“, hören die beiden 66 und 67 Jahre alten Eltern übers Smartphone.
Zwei Tage später explodiert eine Granate in einem benachbarten Hinterhof, und Volodymyr und Galina packen ihre Rucksäcke. Für den ehemaligen Mitarbeiter der Kiewer Stadtverwaltung ist es, wenn man so will, eine Flucht vor der eigenen Armee. Vor Jahrzehnten hat er deren Uniform getragen, war zu DDR-Zeiten in Brandenburg stationiert. Er und seine Frau steigen in den Zug nach Lwiw. Von dort ist es nicht mehr weit nach Polen.
Zwei Kleinbusse machen sich auf den Weg
Beinahe zeitgleich, auch wenn sie das nicht wissen können, machen sich am Dienstagabend die Naumburger Kirsten Reichert und Peter Draht auf den Weg nach Polen. In den zwei Kleinbussen, die mit einer Tonne Lebensmitteln und vielen gespendeten Hygieneartikeln wie Windeln und Feuchttüchern bepackt sind, sitzen auch zwei Reporter von Tageblatt/MZ. Sie werden in den kommenden 26 Stunden selbst mit am Steuer sitzen. Denn dass Journalisten nur einen kostbaren Platz blockieren, der geflüchtete Menschen nach Naumburg bringen könnte, muss ja nicht sein.

Die vier sind ein kleines Teil eines riesigen Räderwerkes, das sich seit Wochen dreht. Ob nun Schönburg oder Eckartsberga, Spanien oder Norwegen, überall werden Spenden gegeben und gesammelt, gepackt und transportiert, werden Geflüchtete gefahren und zu Hause aufgenommen, versorgt und betreut. Die Hilfsbereitschaft scheint schier grenzenlos - hier und vor allem in Polen, das werden wir bald merken.
„Woher kommt ihr?“, ist in diesen Tagen eine hochsensible Frage. Auf unserem ersten Stopp gegen 22 Uhr hinter Görlitz aber noch unproblematisch. „Aus München, wir holen sechs Ukrainer, ist alles organisiert“, so die Antwort. Wir fahren in die Nacht, die Autobahn ist frei, man driftet in Gedanken ab. Die Windradflügel auf den Schwerlast-Transportern - sind sie eine Öko-Waffe im Kampf gegen Putin? Eine kleine, vielleicht. Hinter Kattowitz folgt die Abfahrt gen Auschwitz - und von mir an dieser Stelle kein unpassender Gegenwartsvergleich.

4.20 Uhr erreichen wir Lubaczow, 12.500 Einwohner groß, 13 Kilometer von der Ukraine entfernt. Kirsten Reichert, die binnen einer Woche zum dritten Mal in diese Region aufbricht, hat den Kontakt zu Pfarrer Andreas Stopyra vermittelt bekommen. Mit ihm sind wir um 6 Uhr verabredet, was uns anderthalb Stunden (Halb-)Schlaf im Auto schenkt.

Dann heißt es Tragen. Erbsensuppe, Wiener Würstchen, unzählige Paletten anderer Konserven und Gläser, alles von Naumburger Spendengeld gekauft. Ein Gemeinderaum dient als Lager. Andreas Stopyra wird die Spenden später über die Grenze nach Lwiw zu einer Sammelstelle fahren. 32 Mal war er seit Kriegsbeginn „drüben“. Der Pfarrer scheint sich sicher zu fühlen, obwohl auch in diesem Teil der Ukraine schon Bomben fielen.
„Er fängt an zu zittern und zu weinen“
Die 37-jährige Anja Kordy zeigt uns das Video eines nächtlichen Bombenangriffs in der Ferne. „Von hier, aus Lubaczow, aufgenommen.“ Sie und ihr Freund Peter helfen beim Auspacken. Peter muss gleich auf Arbeit, wirkt aber äußerst fröhlich. Man vergisst deshalb die selbst aufgelegte Sensibilität und fragt, ob er viele Menschen in Lwiw kennt. Das Gesicht des jungen Polen friert ein, er fängt an zu zittern und zu weinen. Sein Onkel sei dort Pfarrer, es folgen Wortfetzen von Bombenalarm und Luftschutzbunker. Wir brechen das Thema ab.

Dass in diesem Text, auch auf Seite 8, nicht die Schicksale aller Menschen ausgebreitet werden, hat mit einer notwendigen Zurückhaltung zu tun: Fragt man junge Frauen, wo sich ihre Männer befinden? Hinzu kommt, dass viele Menschen dort kein Wort Deutsch und kaum ein Wort Englisch sprechen. Pfarrer Andreas Stopyra aber verstehen wir - wenn auch äußerst überrascht - als er sich 6.45 Uhr bei uns entschuldigt, er habe seine Messe vorzubereiten, die gleich beginnt - an einem Dienstagmorgen, 7 Uhr. Und kurz darauf verstehen wir ihn auch, als er vor halb voller Kirche „unsere Gäste und Freunde aus Deutschland“ begrüßt. Wir sind geplättet, müssen jetzt aber los, es geht direkt an die Grenze. Auf dem Weg dorthin sind, wie wir jetzt erfahren haben, auch Volodymyr Kowalski und seine Galina. Wird die Familienzusammenführung gelingen?

Das Aufnahmelager, das wir erreichen, liegt 500 Meter vor dem Grenzübergang Budomezh-Hrushiv. Dutzende große, teils beheizte Zelte sind aufgebaut. Es gibt warmes Essen, Kleidung, Möglichkeiten zum Sitzen, auch zum Schlafen. Gerade ist aber wenig los. Es ist noch früh, die Grenze war über Nacht geschlossen. Als die ersten Menschen die 500 Meter per Shuttle-Kleinbus oder zu Fuß mit ihren Rucksäcken, zum Teil Koffern, ankommen, werden sie von unzähligen Helfern in Empfang genommen. Polnische Sanitäter, Feuerwehrmänner, Polizisten, Ehrenamtler - anstrengende Wochen liegen hinter ihnen. Es ist nicht ihr Krieg, nicht ihr Donbas, nicht ihr Putin. Doch hier wirkt keiner genervt oder wütend. „Am Anfang war viel Euphorie, fast jeder bei uns hat gespendet oder geholfen. Jetzt gerade herrscht ein bisschen Hilfsmüdigkeit, aber das kommt wieder“, hat uns Anja Kordy eine Stunde zuvor gesagt. Wir spüren von Müdigkeit nichts, vor Tatendrang nicht mal unsere eigene.

Und dann steigen sie aus einem Shuttle aus und stehen da: Volodymyr und Galina. Wir wissen nicht, wie sie aussehen, doch sie erkennen das Namensschild, das wir bei uns haben. Kirsten Reichert fällt ihnen um den Hals, ein Handy wird gezückt, Oksana, die in Casekirchen bei den Familien Veit/Landmann/Beier aufgenommen wurde, geht ran. Ihre Eltern haben es geschafft.
Doch in unserem Kleinbus befinden sich noch weitere Plätze, die wir besetzen wollen. Aber so einfach ist das nicht. „Können wir auch morgen fahren? Meine Kinder sind völlig übermüdet. Ich habe sie vorhin erst ins Zelt gelegt“, fragt eine junge Frau mittels Übersetzer-App. Wir zeigen auf einem Atlas, wo Naumburg liegt. Sie ist hin- und hergerissen. Wo soll sie hin? Wem kann sie trauen? Auch deshalb lautet das Credo der Naumburger Hilfsgruppe rund um Kirsten Reichert und ihren Mann Matthias Ludwig: bei jedem Hilfstransport mindestens eine Frau an Bord, die den Ukrainerinnen die Furcht mildern kann.
30 bis 40 Liegen in einem Gemeinschaftsraum
Wir machen uns auf den Weg zu einem zweiten Anlaufpunkt, einem Areal mit Kindergarten, Schule und Kulturzentrum, wunderschön in einem Park gelegen. Drinnen wuselt es, in einem Gemeinschaftsraum stehen vielleicht 30 oder 40 Liegen. Sie waren in der Nacht genutzt worden, man sieht es. „Wie viel Platz habt ihr?“, fragt die Hausleiterin. „Zehn“. „Gut.“ Sie nimmt ihre Liste, streicht hektisch ab, telefoniert, ruft Namen. Wenig später heißt es: „Diese Frau mit Sohn, diese Großmutter mit Enkelin, diese beiden Schwestern mit noch mal vier Kindern. Ist okay?“ „Ja, ist okay“. „Gut, sie brauchen 20 Minuten zum Packen.“

In dieser Zeit kontrollieren Polizisten intensiv unsere Reisepässe. Wir bekommen zusätzliche Kindersitze gereicht. Und bald darauf ist Abfahrt. Nach Naumburg. Zu Dascha und Anastasia, den beiden Schwestern, gehört auch ein acht Monate altes Baby. Es macht in den kommenden zehn Stunden Fahrt kaum ein Auge zu, ist aber ganz lieb, wird hin und wieder von ihren Brüdern, elf und zwölf, bespielt, die ansonsten glücklich-albern an ihren Smartphones zocken. Auch die Frauen machen keinen verängstigten Eindruck. Vier Tage konnten sie sich in der Not-Unterkunft gedanklich auf eine mögliche Reise ins Ausland vorbereiten.
Unsere Form der Hilfe ist nicht effizient, aber individuell und mit Herz.
Matthias Ludwig
Wären sie mit ihren Kindern auch in einen Zug gestiegen? So ganz ohne Sprachkenntnisse? Ohne zu wissen, was und wer sie erwartet? Man weiß es nicht. „Unsere Form der Hilfe ist nicht effizient, aber individuell und mit Herz“, hatte Matthias Ludwig beim Vorbereitungstreffen gesagt. Sicher, ein Zug fasst mehr Flüchtlinge. Aber die Ukrainer in unseren Kleinbussen erwarten, als wir am Mittwochabend, 21 Uhr, wieder eintreffen, keine Turnhalle und keine Schlange an der Registrierung, sondern eigene Zimmer, eigene Duschen, Abendessen, für das Baby passende Windeln und Nahrung. Unzählige Freunde und Bekannte oder auch einfach Menschen, die online davon mitbekamen, haben sie zur Verfügung gestellt, nehmen die Geflüchteten auch tags darauf an die Hand, um Besorgungen zur erledigen.

Ach ja, der Tag darauf, da war doch was. Ausgeschlafen, 10 Uhr auf dem Naumburger Markt, so der Plan für die Wiedervereinigung der Familie Kowalski. Doch er wird von Oksana um 200 Meter verschoben. Sie spurtet los, als sie auf dem Boulevard ihre Eltern kommen sieht. Die Arme gehen auseinander, die Tränen fließen, bei Beteiligten wie Beobachtern. Enkelchen Lev wird geherzt. So viel Glück, so viel Angst, auch wenn man sich nur eine knappe Woche nicht gesehen hat? Der Krieg verändert gerade vieles.

Während in Naumburg Wohnungen bezogen, Medikamente besorgt und Ämter besucht werden, geht Pfarrer Andreas Stopyra in Lubaczow seinem neuen Alltag nach. Wenn es immer heißt, es braucht kurz- sowie langfristige Lösungen, dann hat seine Gemeinde die für sich schon gefunden. Auf dem Hof stehen kurzfristige Spenden für die Ukraine. Vor der sanierten Kirche sind riesige Solarpanele installiert, ob nun für die Umwelt oder gegen Putin, Hauptsache für die Menschen.