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Novemberpogrome in Merseburg Novemberpogrome in Merseburg: Als der Mob gegen jüdische Händler aufzog

Von Robert Briest 10.11.2018, 17:00
Das Kaufhaus Conitzer hatte in den 1930er Jahren einen jüdischen Geschäftsführer. Er wanderte nach Israel aus.
Das Kaufhaus Conitzer hatte in den 1930er Jahren einen jüdischen Geschäftsführer. Er wanderte nach Israel aus. Repro: Marco Junghans/Quelle: Stadtarchiv Merseburg

Merseburg - Wenn es nach den Nürnberger Rassengesetzen von 1935 noch eines Nachweises ihres gefährlichen Antisemitismus bedurft hatte, die Nazis lieferten ihn am 9. und 10. November vor 80 Jahren. Die Ermordung eines deutschen Diplomaten in Paris durch einen 17-Jährigen nutzten die Rechtsextremen als Vorwand für mehrtägige Pogrome. Vielerorts brannten Synagogen, jüdische Geschäfte wurden angegriffen, Schaufenster zerstört, weswegen sich in der Geschichtsschreibung zunächst der Euphemismus „Reichskristallnacht“ einbürgerte.

Auch in Merseburg soll ein aufgewiegelter Mob durch die Straßen gezogen sein. Aufzeichnungen dazu gibt es im Stadtarchiv leider keine, just die Zeitungen der betroffenen Monate fehlen. Eine Synagoge hat hier jedoch eher nicht gebrannt, hatte die Domstadt damals schon keine jüdische Gemeinde mehr, wie sie noch im Mittelalter existiert hatte. Da standen in der Apothekergasse, so sagen es mehrere Quellen, eine jüdische Schule und wohl auch eine Synagoge. 1514 wurden die Juden dann von einem Bischof namens Adolf von Anhalt aus Merseburg vertrieben.

Am Tage des Beginns der Judenverfolgung 1938 heftete Frau Neustadt ihren Kirchensteuerzettel an eine Schaufensterscheibe

Zu Zeiten seines Namensvetters Hitler gab es dennoch Juden in der Stadt. Einige von ihnen hatten Geschäfte in der Innenstadt. Die Heimatgeschichtlerin Lieselotte Schinke hatte ihr Schicksal, so weit ihr bekannt, in einem Band zusammengetragen. Darin findet sich etwa eine Anekdote über die Frau des Händlers Nathan Neustadt, der am Entenplan ein Geschäft für Glas, Haus- und Küchengeräte sowie Spiel- und Luxuswaren betrieb.

„Am Tage des Beginns der Judenverfolgung 1938 heftete Frau Neustadt ihren Kirchensteuerzettel an eine Schaufensterscheibe zum Beweis, dass sie Christen sind“, schrieb Schinke, die einen Akt der Diskriminierung selbst erlebte. Über das Schuhgeschäft der Familie Goldmann in der Kleinen Ritterstraße schreibt sie: „Als die Judenverfolgung begann, war ich Zeuge, als ’Juden raus!’-gröhlende SA-Leute unter Anführer Friseurmeister Erich Schimpf den geschäftsführenden Goldmann-Bruder aus dem Laden holten, ihm das Schild ’Jude’ umhängten und ihn durch die Kleine Ritterstraße führten.“

Für Inhaber eines Tabakgeschäfts in der Burgstraße endeten die Pogrome im KZ Buchenwald

Andere jüdische Kaufleute waren da schon geflohen. Zu ihnen zählte der Geschäftsführer des Kaufhauses „Conitzer“ (später Magnet), seinerzeit eines der beiden größten in Merseburg, Walter Grünbaum. Er war schon 1934 mit seiner Familie nach Israel ausgewandert.

Für Gustav Beutler, Inhaber eines Tabakgeschäfts in der Burgstraße endeten die Pogrome im KZ Buchenwald. Er sei in seiner Wohnung verhaftet, nach kurzer Zeit aber wieder entlassen worden, berichtete Schinke. Später habe die Gestapo den Unternehmer erneut verhaftet und verpflichtet, Deutschland zu verlassen. Von Hamburg aus sei er mit Frau und Sohn nach Shanghai verschifft wurden. Er kehrte 1947 nach Leuna zurück, wo er für den Konsum einen Tabakladen geführt habe.

Weniger Glück hatte der Inhaber des Merkur-Warenhauses in der Kleinen Ritterstraße. Josef Goldstein gelang zwar 1939 die Flucht gen England. Allerdings wurde er dort im Lager Richborough interniert und zurückgeschickt. Die Deutschen brachten ihn schließlich 1942 ins Vernichtungslager Sobibor. Heute erinnert ein Stolperstein auf dem Entenplan an ihn. (mz)

In der Burgstraße 12 (viertes Haus v. r.) hatte Gustav Beutler sein Geschäft.
In der Burgstraße 12 (viertes Haus v. r.) hatte Gustav Beutler sein Geschäft.
Repros: Marco Junghans/Quelle: Stadtarchiv Merseburg
Noch im März 1933 schalteten die Goldmanns Zeitungswerbung. Fünf Jahre später wurde der Inhaber mit „Juden“-Schild durch die Stadt geführt.
Noch im März 1933 schalteten die Goldmanns Zeitungswerbung. Fünf Jahre später wurde der Inhaber mit „Juden“-Schild durch die Stadt geführt.
Repros: Marco Junghans/Quelle: Stadtarchiv Merseburg