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Zeitzeugen erinnern sich Zeitzeugen erinnern sich: Vor 25 Jahren wurde Kranbau Köthen erstmals privatisiert

Von Matthias Bartl 08.09.2018, 12:00
Uwe Raubaum und Hans-Werner Thote (v.l.) vor der ehemaligen Halle I des Förderanlagen- und Kranbau in Köthen.
Uwe Raubaum und Hans-Werner Thote (v.l.) vor der ehemaligen Halle I des Förderanlagen- und Kranbau in Köthen. Matthias Bartl

Köthen - Setzte man sich in eine Zeitmaschine und drehte die Uhr mehrere Jahrzehnte zurück, so würde an der Stelle, wo Hans-Werner Thote und Uwe Raubaum an diesem Dienstagmittag des Jahres 2018 stehen, jede Menge los sein. Kraftfahrzeuge würden hin- und herfahren, Männer im Blaumann die Straße entlangmarschieren. Auf dem Weg zu Halle 1 etwa. Oder ins Freilager. Oder in die Hauptmechanik.

Rund 4.000 Frauen und Männer haben bis 1989 im Förderanlagen- und Kranbau (FAK) Köthen gearbeitet. In einem Betrieb, dessen Produkte dank ihrer Qualität und Robustheit teilweise heute noch in vielen Ländern der Welt im Einsatz sind: Kräne, Tagebaugroßgeräte.

Die Kranbau Köthen GmbH wurde in Häppchen filetiert

Davon ist nicht viel geblieben. In erster Linie die Kranbau Köthen GmbH, die Traditionswahrerin einstiger Metallbaukunst. Dass deren Erstprivatisierung sich in diesen Tagen zum 25. Mal jährt, ist für Raubaum und Thote ein willkommener Anlass, sich an die Zeiten zu erinnern, als der nach Beschäftigten größte Betrieb, den es in Köthen jemals gab, in Häppchen filetiert wurde.

Thote und Raubaum waren dicht dabei - dichter geht eigentlich nicht. Hans-Werner Thote als kaufmännischer Geschäftsführer, Uwe Raubaum als Betriebsratsvorsitzender. Unisono sagen sie ein Vierteljahrhundert nach dem Aus von FAK: „Der Betrieb sollte nicht überleben, das stand von vornherein fest.“ Zumindest habe es Signale gegeben, „das gar nichts bleiben sollte“.

Die beiden Männern können für sich in Anspruch nehmen, alles versucht zu haben, dass es nicht so kommt. Raubaum hat dicke Hefter voller Unterlagen aus der direkten Nachwendezeit bis heute archiviert - darin lässt sich nachlesen, dass ab 1990 buchstäblich im Halbjahresrhythmus Sanierungskonzepte und Variationen davon für die TAKRAF AG, zu der der Förderanlagen- und Kranbau damals gehörte, vorgelegt wurden, in denen schon frühzeitig - im Februar 1991 - von einer „Konzentration auf das Kerngeschäft“ die Rede ist. Immerhin: TAKRAF bestand aus 27 Konzernbetrieben mit 42 Geschäftsfeldern. 26 000 Mitarbeiter waren in dem einstigen DDR-Kombinat beschäftigt.

Dieses Konzept sah für den Standort Köthen gar nicht so schlecht aus: Der Geschäftsbereich Tagebauausrüstungen sollte an den Standorten Lauchhammer und Köthen konzentriert werden, ebenso die Produktion von Brückenlaufkränen in Köthen. Sie wurde bislang im Elsdorfer Weg realisiert, im Konzept FAK II genannt. Allerdings sollte diese Kran-Produktion künftig nicht mehr im Elsdorfer Weg selbst stattfinden, sondern im Hauptbetrieb am Holländer Weg, wie ebenfalls im Konzept nachzulesen ist.

Ziel war, das 78.000 Quadratmeter große Objekt in Köthen zu privatisieren oder zu verkaufen

Die dort aufgeführten Nachteile des Betriebsteils 2: u. a. erheblich überalterte Anlagen, die räumliche Trennung vom Hauptbetrieb, die nicht für das TAKRAF-Kerngeschäft nutzbaren Sachanlagen. Ziel war, das 78.000 Quadratmeter große Objekt zu privatisieren oder zu verkaufen, um dort neue Arbeitsplätze entstehen zu lassen – die Realität von 2018 zeigt, dass dies nur Wortgeklingel war.

Im September 1991 waren schon dunklere Wolken über dem Standort Köthen insgesamt aufgezogen, wie ein neues Konzept deutlich machte. „Der einschneidende Schritt“, so heißt es da, „ist die Aufgabe der Fertigungskapazitäten Tagebau in Köthen verbunden mit einer Privatisierung des Brückenlaufkran-Programms. Eine Verlagerung der Brückenlaufkrane nach Eberswalde erbringt keine wesentlichen betriebswirtschaftlichen Vorteile.“

Gerade der letzte Satz macht klar, dass Raubaum und Thote mit ihrer Feststellung, dass die damalige TAKRAF-Konzernspitze mit Klaus von Dohnanyi an der Spitze, FAK Köthen tatsächlich vollständig liquidieren wollte, und nur der Umstand, dass der Kranbau Eberswalde schlicht zu schwach war, um die Köthener Produktion fortzuführen, den Standort am Holländer Weg gerettet hat. „Die Zweit-Stimme von Dohnanyi hat bei den Tagebaugeräten den Ausschlag gegen Köthen gegeben“, sagt Uwe Raubaum.

1989 waren im FAK etwa 4.000 Menschen beschäftigt, im August 1991 stand man bei 2.700 Mitarbeitern

Man darf dabei nicht übersehen: Die Geschäftslage war schlecht. Köthen war Mitte 1991 – bezogen auf einen Zwei-Schicht-Betrieb – gerade noch zu 52 Prozent ausgelastet. Hinsichtlich der Produktion von Brückenlaufkranen lag die Umsatzrendite bei minus 16 Prozent. Rote Zahlen, wohin man sah – aber das war prinzipiell überall bei TAKRAF der Fall.

Uwe Raubaum ist jedenfalls noch heute überzeugt davon, dass FAK langfristig überlebensfähig gewesen wäre. „Es gab in der Tagebaubranche den Spruch: Schaufelradbagger von Krupp und Bandabsetzer von Köthen – was Besseres gibt es nicht.“ Aber die Zeit der Nachwende sei eben auch die Zeit gewesen, in der sich Unternehmen aus dem Westen unliebsamer Ost-Konkurrenz entledigen konnten.

„Wir mussten ja der Treuhand alle Daten, alle Details unserer Produktion offenlegen. Das war wie ein Striptease – die wussten alles von uns.“ Große Beratungsgesellschaften von McKinsey über A.T.Kearney bis Roland Berger gingen am Holländer Weg ein und aus. „Und die haben gleichzeitig andere, konkurrierende Firmen beraten.“ Man sei sicher, dass auch auf diesem Weg Informationen geflossen seien.

Unter diesen Rahmenbedingungen werde klar, dass es ein harter Kampf gewesen war, „wenigstens den Kranbau für Köthen zu erhalten“. Der Preis freilich war hoch: Die Entlassungen erreichten schnell ein schier unvorstellbares Ausmaß. 1989 waren im FAK etwa 4.000 Menschen beschäftigt. Am 31. August 1991 stand man bei 2.700 Mitarbeitern, Ende 1991 bei 1.800, für 1992 vorgesehen war ein Abschmelzen auf 920 Kollegen. In etwa zwei Jahren baute das Unternehmen über 3.000 Menschen ab – meist in die Arbeitslosigkeit.

Uwe Raubaum musste als Betriebsratsmitglied den Entlassungen zustimmen

„Ich habe damals nicht mehr richtig schlafen können“, erinnert sich Uwe Raubaum an die Zeit dieses Aderlasses, weil er als Betriebsratsmitglied den Entlassungen zustimmen musste. „Sozialauswahl hin oder her: Da lag zur Sitzung wieder und wieder eine Liste mit 100 Namen und man wusste, dass auch Kinder und Familien den Preis mitbezahlen würden.“

Auch die eigenen: Hans-Werner Thote setzte seine Frau auf die erste Entlassungsliste und bei Raubaum war es der Vater, der entlassen werden musste. Bis heute haben Thote wie Raubaum diese Schreckenszeit bis zur ersten Privatisierung des Betriebes im Jahr 1993 mit „ihren 100.000 kleinen Storys“ nicht vergessen. „Wir haben auch gestreikt, Straßen blockiert, geholfen hat das alles nichts.“

Der Privatisierung stand man schon damals skeptisch gegenüber, denn der Käufer des Kranbaugeschäfts war ein Branchenfremder: „Genaugenommen war Ludwig Willenborg ein Landwirt“, sagt Thote. „Der hatte ein Weingut, eine Mineralwasserfabrik, eine Schmiede und einen Betrieb, der kleine Krane gebaut hatte - mit unseren Brocken nicht zu vergleichen.“

Erst die Zweitprivatisierung brachte das Unternehmen wieder in die Erfolgsspur zurück

Wieso die Willenborg Verwaltungsgesellschaft damals den Zuschlag für den Kranbau Köthen bekommen hat, können die beiden Ex-Kranbauer nur mutmaßen: „Bis 1993 hatte die Treuhandanstalt uns nicht kaputtgekriegt, also sollte es auf diesem Weg passieren.“ Willenborg, der sich auch dadurch im Gedächtnis erhalten hat, dass er im Betrieb mit seinem Wasser „und mit Klamotten“ handelte, ging 1998 mit dem Kranbau pleite.

Erst die Zweitprivatisierung durch die Georgsmarienhütte Holding brachte das Unternehmen Kranbau wieder in die Erfolgsspur zurück - in bescheideneren Dimensionen als einst, aber bis heute stabil am Markt. Erhalten hat sich auch die erste Privatisierung aus FAK heraus, die Thote mit auf den Weg gebracht hat: der Stahlhandel Salzgitter befindet sich immer noch am Standort, ist derzeit sogar dabei, sich zu vergrößern.

Und gerettet hat Thote durch Vermietung damals auch den einzigen großen Schornstein, der in Köthen noch zu sehen ist, nachdem seine „Brüder“ allesamt gesprengt wurden: An der 100 Meter hohen Esse des einstigen Heizhauses von FAK I sieht man noch heute die Antennen, die der Grund dafür sind, dass der Riese immer noch steht. Eine ganz besondere Erinnerung.

Kollegen mussten über Jahren unterm Damoklesschwert leben

Für Raubaum und Thote ist es wichtig, dass die Erinnerung an FAK und an die Zerschlagung des Unternehmens nicht verloren geht. Auch daran, dass die Kollegen im Betrieb über Jahre hinweg stets wie unter einem Damoklesschwert lebten und arbeiteten „und dennoch mehrheitlich ihr Bestes gegeben haben, um zu retten, was zu retten war“.

Und erinnert werden soll auch an ein Unternehmen, dass seinen Mitarbeitern und deren Familien nicht nur den Broterwerb bot, sondern auch ein soziales Netzwerk. In einer Aktennotiz vom 27. Juni 1990, wenige Tage vor der Währungsunion, wird aufgezählt, was alles an nicht betriebsnotwendigen Einrichtungen vom alten VEB vorgehalten und bezahlt wurde - fast sechs Millionen DDR-Mark pro Jahr übrigens für Personal, Gebäude, Ausstattung.

Vier Betriebsferienheime in Zingst, Drei-Annen-Hohne, Ludwigshorst und Eisenberg zum Beispiel, ein Bungalow in Bad Düben, ein Schwimmbad auf dem Betriebsgelände, das Sportzentrum Capitol am Neustädter Platz, ein Bootshaus in Aken, Wohnheime, Speisesaal, Küche, die Polytechnik in der Burgstraße, wo viele Schulen ihren UTP-Unterricht abwickelten, die praktische Berufsausbildung, Kindergarten, Kinderkrippe, Ambulatorium, Saal und Gaststätte Osterköthen, Jugendklub und anderes mehr.

Im September 1993, als der Kranbau als kleiner Teil von FAK privatisiert wurde, war dies alles längst aus den Büchern gestrichen und über die Lipsia GmbH zur Vermarktung freigegeben. (mz)

Erinnerungsstücke: Das einstige Heizhaus des Großbetriebes ist noch erhalten und auch der Schornstein steht noch.
Erinnerungsstücke: Das einstige Heizhaus des Großbetriebes ist noch erhalten und auch der Schornstein steht noch.
Ute Nicklisch