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Seit 25 Jahren: Stern TV zu Familie Ritter Stern TV-Special zu Familie Ritter aus Köthen: 105 Minuten Elend und Ekel

Von Matthias Bartl 22.08.2019, 11:57
Ohne Alkohol scheint es nicht zu gehen: Ritter-Sohn Christopher schenkt sich Hochprozentiges nach. Karin Ritter senkt resigniert ihren Kopf. 
Ohne Alkohol scheint es nicht zu gehen: Ritter-Sohn Christopher schenkt sich Hochprozentiges nach. Karin Ritter senkt resigniert ihren Kopf.  Bildschirmfoto RTL stern-tv

Köthen - Alexander von Humboldt war eines der größten Genies der Menschheitsgeschichte. Ein Naturforscher, der bis heute die Arbeit von Generationen nachfolgender Naturforscher geprägt und inspiriert hat. Humboldt wäre in diesem Jahr 250 Jahre alt geworden. Ob freilich RTL dem Forscher und Entdecker ein 105-minütiges Stern TV-Special widmen wird, darf bezweifelt werden. Dafür muss man schon Ritter heißen und aus Köthen kommen.

Dabei waren diese 105 Minuten Elend und Ekel nicht einmal dauerhaft aufmerksamkeitsbindend. Jedenfalls nicht für normal gestrickte Köthener, die mit der kriminellen bis katastrophalen Familie seit Jahrzehnten durchaus auch persönliche Erfahrungen gemacht haben - und mithin den fünften Aufguss der sechstklassigen Prekariats-Geschichte nach dem Motto empfunden haben: Kenn’ mer doch alles schon.

Stern-TV: Familie Ritter beschert RTL ausgezeichnete Einschaltquoten

Was man jenseits der Stadtgrenzen anders sieht. Denn mit den Ritters haben die Macher von Stern TV einen Quoten-Goldesel gesattelt - was auch ihre Hartnäckigkeit erklärt, den Ritters (oder wie sie sich jetzt auch immer nennen wollen), in unschöner Regelmäßigkeit über die Schulter blicken zu wollen; und dabei auch die übelsten Beschimpfungen der Protagonisten geflissentlich zu ignorieren. Für die Quote kann man sich schon mal was gefallen lassen.

Und mit Ritters kann man Quote machen (und im Spezial gleich mal mehrere Werbeblöcke unterbringen). Laut Internet-Plattform Quotenmeter hat das Ritter-Special „ausgezeichnete 20,1 Prozent Sehbeteiligung bei 1,10 Millionen jungen Zuschauern“ erreicht. Auch insgesamt sei das Spezial mit 2,09 Millionen Zuschauern und 12,5 Prozent ein voller Erfolg gewesen.

Danach kann man hochrechnen, wie viele Millionen sich seit 1994 die Berichte über die Familie vom Rand der Gesellschaft angesehen haben. Mit Abscheu, mit Mitleid, mit Wohlwollen. Denn die Familien-Saga hat ja durchaus ihre dramatischen Momente: Kleine Jungs, die mit der Axt die Nachbarin bedrohen, die Mobiliar und Autos kurz und klein schlagen, bevor sie richtig lesen und schreiben gelernt haben - das hat schon was.

Schulleiter von Norman Ritter: „Wir können nicht mehr helfen“

Vor allem freilich wirft es einen schonungslosen Blick darauf, dass es eben Fälle gibt, bei denen alle gesellschaftlichen Mittel und sozialen Netze schlichtweg versagen: Dafür steht in etwa die Aussage von Barb Gudera, damals Leiterin der Pestalozzi-Schule, die Norman zu ihren Schülern zählte und feststellte. „Wir können nicht mehr helfen.“

Oder Peter Grimm, damals wie heute Leiter des Jugendamtes der Landkreisverwaltung, der nicht nur aufzählt, wen man alles 2007 an den Tisch geholt hatte, um für das Problem Ritter eine Lösung zu finden, sondern der auch resigniert feststellt, die Ritters seien beratungsresistent.

Und natürlich zeigen die Hauptdarsteller in ihren Äußerungen und in ihrem Verhalten selbst, wo die Wurzel des Übels liegt: In ihnen selbst. Das RTL-Spezial ist nämlich nicht nur eine Orgie an Unflat, sondern auch an gegenseitigen innerfamiliären Beschuldigungen, die jeweils anderen (Sohn vs. Mutter, Mutter vs. Sohn) seien der Grund für die ganze Misere. Ein wenig von Einsicht zeigen höchsten Andy („Schuld bin ich selber ein bisschen mit“) und Jasmin - was aber in all den Jahren nicht zu nachhaltigen Konsequenzen und Änderungen geführt hat.

Norman, Christopher und Andy Ritter macht in Summe 23 Jahre Gefängnis

Die Sendung geleitet den geneigten Zuschauer durch 25 Jahre einer anhaltenden sozialen Depression. Und einer anhaltenden Inkonsequenz der Verwaltungen in ihrem Handeln der Familie gegenüber. Denn Ritters waren nie obdachlos im definitorischen Sinne dieses Wortes, sondern haben auf Kosten der Stadt (und damit der Steuerzahler) im Laufe der Jahrzehnte Wohnungen in der Angerstraße, der Augustenstraße, der Kolpingstraße bewohnt. Und zwar 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und so weiter.

Obdachlosigkeit sieht anders aus - und zwar mit durchaus auch solchen Regelungen, wie sie derzeit greifen. Und wie sie vor allem Karin Ritter nicht passen. Man darf sicher sein, dass OB Bernd Hauschild (und nicht er allein) dafür wieder in den sozialen Netzwerken, per Mail und Brief angepisst wird - aber aus Köthener Sicht ist die Schaffung klarer Verhältnisse in punkto des Status der Familie lange fällig gewesen.

Was bleibt im Gedächtnis: Schimpfen, Rauchen, Saufen, Messersammeln, rechtes Gedankengut, Nazisymbolik, Ausländerfeindlichkeit, Drogen, Drohungen, Aggressivitäten. Aber auch Momente, die tatsächlich berühren: Wenn Norman etwa weint, weil er seine Kinder nicht sehen kann. Wenn Karin Ritter über ihre Eltern redet. Wenn die Matriarchin, deren Einfluss dahingeschwunden ist, in den Kartons wühlt, in denen sie ihr Leben abgelegt hat. Oder wenn sie den Taxi-Gutschein präsentiert, den sie für ihre Fahrten in die Stadt geschenkt bekommen hat. Wenn sie sagt, dass sie bei ihrer Wohnungssuche inzwischen die 27. Absage bekommen hat. Da sieht man plötzlich den Menschen hinter der Mauer aus sozialer Pervertierung.

Und fragt sich natürlich, ob es irgendwann enden wird. Und wie. Ob zum Beispiel Norman, Christopher und Andy irgendwann nicht mehr mit der Regelmäßigkeit eines Jojos in den Knast rein und raus und rein spazieren. Derzeit sind wohl alle weggeschlossen und wenn RTL richtig gerechnet hat, kommt das Trio gemeinsam auf 23 Jahre und zwei Monate Gefängnis - ob darin schon die aktuellen Verurteilungen eingearbeitet sind, wurde in der Fernseh-Saga nicht deutlich.

Karin Ritter: „Ich hasse meine Jungs, ich verfluche sie“

Das drängendst zu lösende Problem allerdings ist die Unterbringung von Karin Ritter, was im TV-Beitrag ebenfalls eine Rolle spielte. Hier steht die Stadt in der Verantwortung - der Winter ist nicht mehr so fern und bis dahin sollte man eine Lösung dafür finden, dass eine 65 Jahre alte Frau von eher desolater Gesundheit nicht mehr tagsüber auf der Straße sitzt. Oder auf ihrem Stammplatz vor dem Eiscafé „Venezia“. Meist allein.

Denn die Familienbande sind inzwischen längst nicht mehr so straff wie einst. Karin Ritter weiß sehr wohl, dass ihre Jungs für ihr weiteres Leben eine Belastung sind. „Ich hasse meine Jungs, ich verfluche sie“, sagt sie denn auch in die Kamera. Und RTL stellt fest: „Es ist einsam geworden um Karin Ritter.“ Na ja, wenigstens RTL wird wohl auch künftig immer mal wieder vorbeischauen.  (mz)

Karin Ritter wartet auf Einlass in die Köthener Obdachlosenunterkunft.
Karin Ritter wartet auf Einlass in die Köthener Obdachlosenunterkunft.
Matthias Bartl