Prozess wegen Wucherpreis Prozess wegen Wucherpreis: Schlüsseldienst muss 189 Euro pro Viertelstunde erklären

Köthen - Wer sich aus dem eigenen Heim aussperrt, ist in einer Notlage. Meist ist diese Not nicht existenzieller Natur, sie kann es jedoch werden - nachträglich. In dem Moment nämlich, wenn der Ausgesperrte vom Schlüsseldienst die Rechnung präsentiert bekommt. Mehrere hundert Euro sind dann keine Ausnahme; für in der Regel wenige Minuten Arbeit. Doch ab wann nutzt der Schlüsseldienst die Notlage der Kunden über Gebühr aus? Eine schwer zu klärende Streitfrage.
Schlüsseldienst verlangt 1.148 Euro von 89-Jähriger
Ein besonders krasser Fall hat sich in Köthen ereignet: 1.148 Euro verlangte der selbstständige Schlüsselnotdienstleister S. von der Rentnerin N. für das Öffnen ihrer Tür und den Austausch des Schlosses. Vor dem Amtsgericht Köthen muss er sich deshalb wegen Wuchers verantworten.
Die 89-Jährige war am Ostermontag gerade vom Müllwegbringen gekommen, als sich das Türschloss ihrer Köthener Wohnung nicht mehr schließen ließ.
Schlüsseldienst berechnete 189 Euro pro Viertelstunde
Die vorsitzende Richterin Susanne Vogelsang zeigte sich am Montag zu Beginn der Verhandlung irritiert von der horrenden Rechnung und stellte klar: Der ortsübliche Preis für die vom Angeklagten erbrachten Leistungen – da schien sich die Richterin erkundigt zu haben – liege gerade einmal zwischen 188 und 212 Euro.
„Die Anklage ist teilweise zutreffend“, erklärte S.’ Anwalt Chapar Golkar zunächst, ging dann jedoch übergangslos dazu über, den von seinem Mandanten gestellten Rechnungsbetrag in allen Einzelheiten zu rechtfertigen.
Die Höhe der Rechnung habe zunächst einmal mit dem Feiertag zu tun. Zudem habe sein Mandant eine Stunde für den Anfahrtsweg gebraucht. Für Anfahrt und Öffnung der Tür berechnete er wegen des Feiertages 189 Euro. Von wo genau sein Mandat gekommen sei, wollte Golkar der Richterin allerdings nicht beantworten. Sein Mandant sei in der näheren Umgebung auf Montage gewesen.
Das Kastenschloss und ein „Profilzylinder“ mussten getauscht werden
Bei den besagten 189 Euro ist es nach Angaben des Anwalts nur deshalb nicht geblieben, weil das Schloss der Rentnerin defekt war und S. das Kastenschloss und „Profilzylinder“ austauschte. Für beide Bauteile zusammen veranschlagte der Schlüsselnotdienstleister fast 370 Euro.
Oben drauf kamen weitere 189 Euro für jede angebrochene Viertelstunde Arbeit. Etwas über eine Stunde hatte S. laut Rechnung zu tun, das machte entsprechend vier hundertprozentige Aufschläge. So kamen die fast 1.200 Euro zustande.
„Mein Mandant hat sehr hochwertige Bauteile verbaut.“ Zudem habe er die alte Dame vor jedem Arbeitsschritt um ihr Einverständnis gebeten und ihr auch günstigere Bauteile zur Wahl gestellt. Die Rentnerin hätte sich laut Golkar bewusst für die teuerste Variante entschieden.
Rentnerin wollte die hohe Rechnung erst nicht bezahlen
An all diese Einzelheiten kann sich N. vor Gericht nicht mehr erinnern. Sie habe nicht viel mit dem jungen Mann gesprochen, gibt sie im Zeugenstand zu Protokoll. Verwundert sei sie angesichts der hohen Rechnung gewesen. „Ich wollte erst nicht zahlen, aber der junge Mann sagte, er würde das Schloss wieder ausbauen, wenn ich nicht gleich bezahle.“ Und wo sollte die Seniorin Ostermontag ein neues Schloss herbekommen? Nach dem ersten Schreck erstatte sie jedoch Anzeige bei der Polizei.
Die geschädigte Rentnerin, so wurde vor Gericht deutlich, hatte schon zum Zeitpunkt der Türöffnung im März 2016 Probleme mit dem Gehör, ebenso mit dem Kurzzeitgedächtnis. Einzelheiten – ob zum Beispiel der Angeklagte ihr vorab die Kosten erklärte, wie lange er mit ihrer Tür tatsächlich beschäftigt war oder ob er ihr günstigere Bauteile anbot, wie vom Angeklagten dargestellt – konnte sie daher weder bestätigen noch dementieren. T
Tochter bestätigte vor Gericht die Geschäftsfähigkeit der alten Dame
„Es tut mir so leid, dass ich mich daran nicht erinnern kann“, erklärte die alte Dame immer wieder. S. beteuerte dagegen, die Rentnerin habe ihn gut verstanden und sei mit allem einverstanden gewesen. Ihre Geschäftsfähigkeit bestätigte jedenfalls die Tochter der alten Dame vor Gericht.
Dennoch, für die Vorsitzende und die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau blieben die Details der Rechnung schleierhaft. „Das scheint mir alles doppelt abgerechnet“, so Susanne Vogelsang. Chapar Golkar hielt dagegen, es gebe keine verbindliche Gebührenordnung, jeder Unternehmer könne die Preise selbst festlegen.
Nachbar kam der 89-Jährigen zur Hilfe
Doch auch das Geschäftsmodell des Schlüsselnotdienstleisters ließ Fragen offen. N.’s Nachbar, der der Rentnerin zu Hilfe kam und ebenfalls als Zeuge geladen war, hatte die Nummer eines Schlüsselnotdienstes gewählt, der sich über drei Vokale am Anfang des Firmennamens im Telefonbuch nach vorn geschummelt hatte.
Der Zeuge wählte diesen Schlüsseldienst, weil die Firma laut Telefonbuch vermeintlich nur ein paar Straßen weiter in der Köthener Thomas-Mann-Straße zu sitzen schien. Im Telefonbuch fehlt allerdings bis heute die Hausnummer des eingetragenen Kaufmanns und statt einer Köthener ist eine 0800-Nummer verzeichnet. Ob die Firma tatsächlich in der Thomas-Mann-Straße sitzt, konnte S. gegenüber der MZ nicht beantworten.
Schlüsseldienst bekommt Aufträge über andere Firma
Über diese Firma erhalte S. seine Aufträge, so sein Anwalt. Über die Höhe der für diese Leistung zu erbringenden Provision wollte der Angeklagte auf Anfrage der Richterin keine Auskunft geben. Diese Information sei aber schon wichtig, damit man sich ein Bild darüber machen könne, in welchen Zwängen der Beschuldigte womöglich steckt, hakte die Vorsitzende nach. Die Provision sei nicht gering, ließ sich Verteidiger Golkar lediglich ein.
Auch die Angaben zum genauen Zeitpunkt und der Dauer seines Arbeitseinsatzes decken sich nicht vollständig mit den Zeugenaussagen. Das dürften einige der Gründe sein, warum Susanne Vogelsang einen zweiten Verhandlungstermin für den 23. November ansetzte, um weitere Zeugen zu hören. Das Angebot der Staatsanwaltschaft, das Verfahren gegen 500 Euro einzustellen, lehnte die Verteidigung ab. (mz)