Köthen Köthen: Mit Dampflok das Krankenhaus beheizt
KÖTHEN/MZ. - Jeden zweiten Monat wird es an einem Freitag in der Petersilienbar in der Naumannstraße in Köthen richtig voll und lautes Stimmengewirr ist bis in die benachbarte Gartenanlage "Am Stadion" zu hören. Das ist nicht verwunderlich; denn die Männer, die sich dort regelmäßig treffen, haben sich viel zu erzählen. 80 Leute waren sie immerhin mal bis Mitte der 90er Jahre in der Einsatzstelle Köthen. Von dort aus fuhren sie mit ihren Dampf-, Diesel- oder E-Loks Richtung Magdeburg, Leipzig, Halle, Halberstadt, Falkenberg, Weißenfels, Ilsenburg, Sangerhausen, Dessau und Aken, hinter sich Personenzüge oder lange Reihen Güterwaggons. Seit diesem Jahr treffen sie sich zum Lokführerstammtisch in der Petersilienbar, die Ehemaligen, die diesen Traumberuf eines jeden Jungen zum Teil schon vor dem Krieg erlernten, und die aktiven, die heute modernste Schienenfahrzeuge steuern.
Viele Geschichten
Da ist so manche spannende, amüsante und auch tragische Geschichte aus Jahrzehnten Lokführer-Dasein zu hören. Adolf Behnke, der Älteste am Stammtisch, ist immerhin schon 89, gefolgt von Erich Kubetzek mit 88 und Erwin Heger mit 82 Jahren.
Heger hat seinen Beruf 1943 in Decin im Sudetenland erlernt. "Viele Jungen wollten damals Lokführer werden und meine Kameraden haben mich beneidet", erinnert er sich. Zwei Jahre später - mitten in der Ausbildung - musste er wie die anderen Sudetendeutschen mit der Familie die Heimat verlassen. Doch Erwin Heger hatte Glück. In Biendorf bei Bernburg konnte er eine Schlosserlehre absolvieren. Eine Lokomotive gab es in Biendorf zwar nicht, doch zwei Jahre lang steuerte er einen Dampfpflug über die Felder. Diese Maschinen sind heute nahezu vergessen, für Berufsanfänger Erwin aber war dieser Dampfpflug ein Schritt zu seinem eigentlichen Ziel, im Führerstand einer Lok zu sitzen.
Kohlenzüge nach Brandenburg
Nachdem er in der Einsatzstelle Köthen einige Jahre als Heizer gearbeitet hatte, wurde er 1955 dann tatsächlich Lokführer. Zuerst rangierte er nur, doch bald fuhr er mit seiner 52er Dampflok lange Kohlenzüge nach Brandenburg.
"Dampf - das war eine schöne Zeit, da hat man noch richtig gesehen, wie die Lok arbeitet", schwärmt der Lokführer, der in seinen letzten Berufsjahren bis zur Rente 1989 auch noch Dieselloks gefahren ist. - Kein Vergleich zu den schnaufenden Dampfrössern. "Lokführer - das heißt für mich Dampflok fahren. Die Eisenbahnfans heute wollen doch keine Diesel- oder E-Lok, die wollen Dampfloks fotografieren", meint er und sagt mit einem schelmischen Seitenblick auf seinen jungen Kollegen Maik Szymanek: "Die heute in ihren modernen Loks, das sind doch nur Straßenbahnfahrer!"
Damals, ja da sei noch voller Einsatz gefragt gewesen, sagt Erwin Heger und blickt auf den Winter 1978 / 79 zurück, als er mit seinem Personenzug zwischen Aken und Köthen im Schnee steckenblieb. "Die Strecke war im Winter sowieso schwierig zu fahren", erinnert er sich. An jenem Tag aber habe sein Zug samt Passagieren drei Stunden festgesessen, bis ihn drei aneinander gekoppelte Loks herausziehen konnten.
Der Winter - der "größte Feind des Sozialismus" - brachte für Erwin Heger noch andere Herausforderungen. So musste er mit einer Dampflok zwei Tage lang das Krankenhaus in der Dessauer Landstraße in Aken - heute eine Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt - sowie eine Halle des Magnesitwerkes beheizen, weil das Heizhaus ausgefallen war.
Wichtige Kontakte
Mit dem Winter hat die Bahn aber auch heute so ihre Probleme. Verspätungen, zugefrorene Weichen, mangelhafte Informationen für die Fahrgäste - das alles ist Erwin Heger nicht unbekannt, ist der einstige Hauptlokführer doch nach der Pensionierung 1989 oft als Passagier mit dem Zug gefahren. Doch der ehemalige Lokführer nimmt solch Unbill gelassen. "Ich kenne ja die Betriebsabläufe", zeigt er Verständnis für seine Nachfolger. Und dass er jede Fernsehsendung über die Geschichte der Eisenbahn aufmerksam verfolgt, versteht sich von selbst.
Die alten Geschichten sind bei weitem nicht das Hauptthema am Stammtisch der Köthener Lokführer, steht doch über die Hälfte von ihnen im Berufsleben. Es gehe um Gespräche, um Erfahrungsaustausch, sagt Maik Szymanek aus Arnsdorf, der mit seinem Lokführer-Kollegen Jörg Liehr Anfang des Jahres den Stammtisch in der Petersilienbar ins Leben gerufen hat. "Was gibt es denn unter den Lokführern noch für soziale Kontakte? - Man sieht sich ja kaum", weist er darauf hin, dass er und seine Kollegen viele Stunden allein auf ihren Maschinen arbeiten, einen großen Teil davon nachts. Einen "Beimann", der dem Lokführer früher beim Ankuppeln half oder meldete, wenn Wasser aufgefüllt werden musste, gibt es längst nicht mehr. "Da ist so ein Stammtisch schon wichtig, auch für den Informationsaustausch", stellt Szymanek fest.
So verwundert es nicht, dass die Petersilienbar gleich beim ersten Treffen im Januar voller Lokführer war. Und das lag garantiert nicht hauptsächlich am angekündigten Spanferkel-Essen.