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Köthen Köthen: Helfende Hand für jene, die vor dem Abgrund stehen

Von UTE HARTLING-LIEBLANG 20.09.2011, 18:57

KÖTHEN/MZ. - "Vor zwölf Jahren stand ich vor dem Abgrund", erzählt Volker M. (alle Namen geändert). Der heute 62-Jährige ist seit über 20 Jahren alkoholkrank. "Wie das so war bei Handwerkern, da wurde hier und da mal einer getrunken." Man merke gar nicht, wie man schleichend in die Sucht hineinrutscht. Ihn habe erst der mehrfache Verlust des Führerscheins wachgerüttelt. "Den brauchte ich, um auf Montage zu fahren". Doch als M. in der Führerscheingruppe saß, um bei der medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) seine Fahreignung nachzuweisen, hat er nur an den nächsten Schluck gedacht. "Hinterher stand ich wieder am Kiosk", erzählt er. Zuletzt hat er mit 3,1 Promille im Straßengraben gelegen.

Seit sieben Jahren ist er jetzt trocken. "Hier fühle ich mich aufgehoben", sagt der 62-Jährige über die Suchtberatungsstelle des Diakonischen Werkes Bethanien in der Köthener Bärteichpromenade 12b. Für ihn ist unvorstellbar, dass die Suchtberatung von der Schließung bedroht ist.

Die Selbsthilfegruppe, in der sich etwa zehn Betroffene alle 14 Tage treffen, ist auch für Manfred H. (58) wie eine Familie. Viele würden resignieren und vielleicht wieder zur Flasche greifen, wenn das alles wegbricht, denkt der Köthener, der schon zu DDR-Zeiten suchtkrank wurde. Mehrere Anläufe, verteilt über viele Jahre, hat auch er gebraucht, bevor er sich entschloss, seine Alkoholprobleme in einer Suchtberatungsstelle anzusprechen. Seit sieben Jahren ist auch H. trocken.

Dass die drei Männer überhaupt dazu bereit waren, in eine Selbsthilfegruppe zu gehen, sei das Ergebnis unzähliger Einzelgespräche gewesen, erklären sie. Auch bei H. hat die Sucht durch den Handwerkerberuf angefangen, wo öfter mal einer getrunken wurde. Bevor er sich die Suchterkrankung selbst eingestand, habe er sich immer wieder rausgeredet. Das Umfeld schaue viel zu oft weg, sagen die Männer, oder sei in Co-Abhängigkeit verstrickt. Letzteres trifft vor allem auf Familienangehörige zu. Da wird gesagt, man sei krank. Das Alkoholproblem werde verdrängt, erzählen die Männer.

Es gehört ganz viel Vertrauen dazu, um sich zu outen und "Dinge über sich zu erzählen, die nicht einmal die eigene Familie weiß", sagt der Dritte im Bunde, Holger S. (47). "Ich weiß, das bleibt hier im Raum." Als "helfende Hand" und "Wegweiser" bezeichnen die Männer die Unterstützung, die sie von den speziell ausgebildeten Sozialpädagogen und Suchttherapeuten erfahren. Zwei- bis dreimal die Woche kommt der 47-Jährige S. in die Bärteichpromenade zum Frühstück oder zum Mittagessen, sucht das Gespräch mit anderen Betroffenen und: "Wenn es mir mal ganz schlecht geht, weiß ich, dass ich mich an die Fachleute hier wenden kann."

Doch auch untereinander hilft man sich. So habe er kürzlich einen Kumpel, der einen Rückfall hatte, umgehend zur Entgiftung gefahren, erzählt S. Aus eigenem Erleben weiß er, wie schnell so ein Rückfall kommen kann: "Mit dem Schraubverschluss musst du nicht über deine Probleme reden."

Als sie davon hörten, dass die Suchtberatung eventuell beim Gesundheitsamt der Landkreisverwaltung angegliedert werden soll, waren alle drei entsetzt: "Da können wir uns ja gleich auf den Markt stellen", sagen sie. Es heiße doch nicht umsonst "anonyme Alkoholiker". Die sollten beim Landkreis oder bei der Stadt nicht so tun, als gebe es in Köthen keine Probleme mit Trinkern, sagen die Männer. "Die kennen die Plätze nur nicht." Auf alle Fälle befürchten die drei, dass der Friedenspark wieder voller werden könnte, wenn bewährte Strukturen der Suchtberatung wegbrechen.

Im Moment ist die Sozialpädagogin Antje Hartwig die einzige Fachkraft in der Köthener Beratungsstelle. Auch ihr wurde zum 31. Dezember 2011 gekündigt. Eine Kollegin ist im Krankenstand, eine andere hat sich bereits anderswo Arbeit gesucht. "Irgendwie muss es ja weitergehen", sagt Hartwig und hat dabei die Menschen im Auge, die auf Hilfe angewiesen sind. Das sind neben den Alkoholkranken auch Drogensüchtige. "Sie sind wie scheue Rehe", sagt Hartwig. Viele kommen erstmals in der Pubertät mit Drogen in Berührung. "Da stecken ganz andere Persönlichkeitsstrukturen dahinter. Sie brauchen oft die größere Kraft, um sich in einer Langzeittherapie aus der Sucht zu lösen. Doch dazu müssen sie erst motiviert werden.

Die Ungewissheit, wie es am 1. Januar 2012 weitergehen soll, verfolgt auch Antje Hartwig. Diese Aufgabe könne nicht jeder übernehmen: "Wir sind eine vom Land anerkannte Suchtberatungsstelle", sagt sie. Auch Hartwig musste schon Leute zum sozialpsychiatrischen Dienst wegschicken. Oft sind es Auflagen vom Gericht, wenn sich jemand über mehrere Jahre in die Obhut einer Suchtberatungsstelle begeben muss, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Oder er wird nach dem Führerscheinentzug zur MPU geschickt. "Was soll ich den Leuten sagen, wer sie ab Januar weiter betreut?", fragt Hartwig. Auch Eltern suchtkranker Kindern stellen sich diese bange Frage. In der Bärteichpromenade wussten sie sie in guten Händen. "Die Hoffnung stirbt zuletzt", sagen die Männer, die bereit waren, mit der MZ über ihre Sucht zu reden.