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Köthen Köthen: Egon «zum Anfassen»

Von helmut dawal 15.04.2012, 16:25

köthen/MZ. - Es sei bereits die zweite Veranstaltung in der Reihe "Wendepunkte", schickte Vereinsvorsitzender Raymond Schulz voraus. Zur ersten Anfang März sprach der ehemalige Generaloberst der NVA, Horst Stechbarth, in Köthen über sein Leben. Schulz' damalige Mitteilung, dass der Verein als nächsten Gast Egon Krenz erwartet, genügte, um den Saal am Freitagabend ohne eine weitere Ankündigung voll zu kriegen.

"Bei mir haben die Telefone geglüht. Ich hatte gar nicht so viele Plätze wie sich Interessenten meldeten", sagte Raymond Schulz gegenüber der MZ. Also habe er die Plätze vergeben müssen, bis irgendwann der Saal ausgebucht gewesen sei.

Den ehemaligen Generalsekretär der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR mal aus nächster Nähe zu erleben, das wollten sich viele offenbar nicht entgehen lassen. Tatsächlich gab es einen Egon Krenz "zum Anfassen". Er war mit seiner Ehefrau Erika nach Köthen gereist, plauderte locker mit den Leuten, unterzeichnete Autogrammkarten oder signierte sein Buch "Widerworte", das gekauft werden konnte, mit ein paar persönlichen Anmerkungen. In tiefsten DDR-Zeiten wäre eine solch hautnahe Begegnung mit einem Spitzenpolitiker des Arbeiter-und-Bauern-Staates schwer vorstellbar gewesen, wurden die höchsten Repräsentanten doch immer gut abgeschirmt von Personenschützern der Stasi. Ein Herankommen für den normalen Bürger war schwierig.

Die Wendezeit will der Förderverein in loser Folge aus der Sicht von Menschen beleuchten, die damals im Land an den verschiedensten Stellen agiert haben, sei es an der Spitze des DDR-Staates oder beim Neuen Forum, das die friedliche Revolution mit auf den Weg brachte. "Wir wollen nicht jubeln, dass früher alles besser war", betonte Raymond Schulz, "aber wir wollen Geschichte betrachten, aus der Geschichte lernen und über Geschichte diskutieren."

Dann hatte Egon Krenz das Wort. Der 75-Jährige holte teils sehr weit aus, um sich dem Thema "Wendepunkte" zu nähern. Auf Nachfragen schilderte er unter anderem, wie sich die Entmachtung Erich Honeckers abgespielt hat und berichtete über die legendäre Pressekonferenz am 9. November 1989, wo Politbüro-Mitglied Günter Schabowski früher als eigentlich abgesprochen war die Öffnung der Grenze bekannt gab. "Die im Politbüro einstimmig beschlossene Festlegung sollte ja erst am 10. November in Kraft treten. Ich konnte doch nicht ahnen, dass er sich auf diese Pressekonferenz so schlecht vorbereitet hat", sagte Krenz.

In jener Nacht, als die Menschen die Grenzübergangsstellen stürmten, sei er sehr besorgt gewesen. Zum einen seien die Grenzer von der Situation völlig überrascht gewesen, weil sie nicht informiert wurden. Zum anderen hätte auch nur ein Toter an diesem Abend, und wäre ein Mensch in diesem Chaos nur zertrampelt worden, eine Katastrophe bedeutet und hätte die Ereignisse derart emotionalisiert, dass daraus eine kriegerische Auseinandersetzung hätte entstehen können, äußerte Krenz. Herbe Kritik übte er an Michail Gorbatschow, den viele Menschen hierzulande als Wegbereiter der deutschen Wiedervereinigung sehen. "Verraten hat uns Gorbatschow in dem Moment, als er hinter unserem Rücken den Preis der deutschen Einheit ausgehandelt hat", sagte Krenz.

Die DDR - sie war nicht fehlerfrei, das räumte Krenz mehrfach ein. Es sei ein großer Fehler gewesen, in den 70er Jahren Klein- und Privatbetriebe aufzulösen. Die Stadtzentren seien baulich vernachlässigt worden, "aber wir brauchten doch Wohnungen für die Menschen". Versäumnisse habe es auf dem Gebiet des Umweltschutzes gegeben. Und auch mehr Offenheit und eine kritische Presse hätte der DDR besser zu Gesicht gestanden. Dennoch wehrte sich Krenz dagegen, die DDR und ihre Menschen unter Generalkritik zu stellen. "Hätten wir alles richtig gemacht, wären wir nicht so untergegangen wie wir untergegangen sind. Doch das eigentliche Problem ist, dass die DDR seit 22 Jahren in den Medien und der Politik am Pranger steht und so dargestellt wird, als sei die DDR ein einziger Kriminalfall."