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Kollektivstrafen und Geschrei? Kollektivstrafen und Geschrei?: Schulverweigerer aus Angst - Kritik an Schule Edderitz

Von Tim Fuhse 27.11.2019, 12:38
Alexandra Keitel (links) und Katrin Kiel vor der Edderitzer Grundschule. Die Mütter kritisieren den Umgang in der Bildungseinrichtung.
Alexandra Keitel (links) und Katrin Kiel vor der Edderitzer Grundschule. Die Mütter kritisieren den Umgang in der Bildungseinrichtung. Ute Nicklisch

Edderitz - Anfang des Jahres geht es nicht mehr. Katrin Kiel listet die Beschwerden ihres achtjährigen Sohnes wie an der Schnur gezogen auf. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Alpträume, Gesichtszuckungen. Bücher und Stifte seien für ihn ein rotes Tuch gewesen, der Zweitklässler habe sie auch zu Hause nicht mehr angefasst. „Er war so demotiviert, dass er einfach dicht gemacht hat“, sagt Kiel.

Alles, weil ihr Sohn es in der Schule nicht ausgehalten habe. Lieber würde er sterben, sagt der Junge seiner Mutter damals, als dort weiter hinzugehen. Im Januar dieses Jahres verweigert Kiels Sohn sich endgültig.

Es ist einer von zwei ähnlichen Fällen an der Edderitzer Grundschule. Auch die beiden Töchter von Alexandra Keitel gehen seit Januar nicht mehr dorthin - sie wollen nicht mehr. Bei der Älteren schildert die Mutter Vergleichbares: Psychosomatische Beschwerden, sogar Suizidgedanken. Keitel teilt der Schule schließlich mit, dass die Kinder nicht mehr kommen werden.

Ein Begriff, den die Wissenschaft hier nutzt, ist Schulangst

Schwerwiegende Fälle, die es so oder ähnlich auch jenseits von Edderitz geben soll. Ein Begriff, den die Wissenschaft hier nutzt, ist Schulangst. „Als Phänomen ist das Gegenstand in der pädagogischen Psychologie“, sagt Anett Wolgast, Professorin am pädagogischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle (MLU). Man gehe davon aus, dass etwa ein Prozent aller Schüler im Land darunter litten.

„Es sind keine Einzelfälle“, bestätigt Wolgast. Auch am schulpädagogischen Institut der MLU soll bald zu schulverweigernden Grundschülern geforscht werden. Wenngleich man noch am Anfang stehe, so Bildungsforscherin Anja Eckold, gebe es bereits Kontakt zu über 30 betroffenen Familien.

Darunter sind auch die Kiels und Keitels. Beide erzählen von Problemen ihrer Kinder mit dem Alltag im Schulsystem - Leistungsdruck, langes Sitzen. Doch was die Mütter berichten, wirft auch Fragen zum Umgang an der Edderitzer Grundschule auf. Den Kindern würden Toilettengänge verweigert. Sie würden von Lehrern angeschrien. Als einzelne Schüler für Unruhe gesorgt hätten, sei die gesamte Klasse bestraft worden, berichtet Keitel.

Eine weitere Mutter spricht gegenüber der MZ ebenfalls von Kollektivstrafen und Geschrei

Eine weitere Mutter (Name der Redaktion bekannt) spricht gegenüber der MZ ebenfalls von Kollektivstrafen und Geschrei, nennt Beispiele. Sie habe ihren Sohn vor rund zwei Jahren aus der Edderitzer Grundschule genommen. Lehrkräfte hätten den Jungen, der an einer psychischen Erkrankung leide, im Gespräch mit ihr beleidigt, zudem mehrfach ins Schulgebäude gezogen. Als er sich auf dem Schulhof schwer verletzt habe, sei dies abgetan und ignoriert worden. Teils sei ihr Sohn aus dem Gebäude geflüchtet. Mittlerweile gehe er anderswo zur Schule. Zwei mal hat die Frau nach eigener Aussage beim Schulamt Beschwerde eingereicht.

„Was da läuft, ist nicht ok“, sagt Kiel über die Situation an der Schule. „Ich wünsche mir, dass mehr Eltern den Mut haben, den Mund aufzumachen.“ Die Pädagogik sei veraltet. Gerade sensible Kinder kämen mit dem Umgang nicht zurecht, sagen alle drei Mütter.

Die Grundschule will sich gegenüber der MZ nicht zu den Fällen äußern und verweist auf das Landesschulamt. Auch die Behörde gibt keine Auskunft über etwaige Schulverweigerer in Edderitz und beruft sich auf den Datenschutz. Zu den Vorwürfen der Mütter werde man intern prüfen, ob entsprechende Hinweise eingegangen seien.

Landesweit habe man im vergangenen Schuljahr 33 Schulverweigerer gemeldet bekommen

Landesweit habe man im vergangenen Schuljahr 33 Schulverweigerer gemeldet bekommen, teilt das Amt mit. Bei knapp 70.000 Schülern in Sachsen-Anhalt sei das wenig. Die Ursachen für das Verweigern seien nicht zwingend bei den Schulen zu suchen. Grundschüler könnten etwa auch Angst haben, das Elternhaus zu verlassen.

Betroffene Familien und Schulen müssten zusammenarbeiten, auch das Amt berate und bespreche Lösungen oder Alternativen. Die beiden Edderitzer Mütter haben diese Gespräche mit der Behörde geführt. Gehör, sagt Kiel, habe sie durchaus gefunden - aber nicht die erhoffte Hilfe. „Es kommen keine Vorschläge“, bemängelt die Mutter. Nur der Hinweis, den Sohn krankschreiben zu lassen „Aber das Kind ist nicht krank. Es wird durch die Schule krank gemacht.“

„Die neue Schule hat es geschafft, ihn wieder zu begeistern“

Mittlerweile sind die Fälle der beiden Familien vor Gericht gelandet. Das Ordnungsamt Südliches Anhalt verhängte Bußgelder wegen Verstößen gegen das Schulgesetz. In beiden Fällen waren die Kinder nicht oder nicht durchgängig von der Schulpflicht befreit. Die Eltern seien verpflichtet, für den Schulbesuch zu sorgen. Die Kiels und Keitels legten Widerspruch ein. Die Richterin am Köthener Amtsgericht stellte die Bußgeldverfahren ein. „Das war auch für uns kein einfacher Weg“, sagt Kiel. „Es ist ein Nervenkrieg.“

Beide Mütter haben sich auf die Suche nach Alternativen für ihre Kinder gemacht. Sie kritisieren nicht nur die Edderitzer Grundschule, sondern das Schulsystem grundsätzlich. Beide haben nach dem Schulverweigern der Kinder Kontakt zum Bundesverband „Natürlich Lernen!“ aufgenommen, einem Freilerner-Verein. Kiel ist dort seit Mitte des Jahres Mitglied. „Ich würde mir wünschen, dass Lehrer mehr Zeit haben, individueller auf die Schüler einzugehen“, sagt sie.

Ihrem Sohn gehe es mittlerweile besser. Er besucht inzwischen eine Waldorfschule. Das bedeute lange Fahrten, hohe Kosten - doch die Beschwerden seien verschwunden. „Die neue Schule hat es geschafft, ihn wieder zu begeistern“, sagt Kiel. Keitel sucht noch nach einem neuen Platz für ihre Töchter. Auch den beiden gehe es besser, seit sie nicht mehr in Edderitz zur Schule gingen. (mz)

Mit jeder Unterrichtsstunde, die Schüler unentschuldigt verpassen, verletzen sie in Sachsen-Anhalt die Schulpflicht. In der Regel wird zunächst das Gespräch mit den Eltern gesucht. Im nächsten Schritt kann ein Bußgeld von bis zu 1.000 Euro ausgesprochen werden - gegen die Eltern oder Schüler ab 14 Jahren. Dazu kommen Verwaltungsgebühren.

Sogenannte Freilerner kritisieren die Schulpflicht. Sie lehnen den Zwang, im bestehenden Schulsystem zu lernen, ab - und sprechen sich dafür aus, Kinder stärker nach deren eigenen Wünschen zu bilden. Also, anders als beim „Homeschooling“, auch ohne festen Lehrplan. Teils ziehen Familien in andere Länder, um die deutsche Schulpflicht zu umgehen.