Heimleiterin Troitsch war liebevolle Mutti
Köthen/MZ. - Die Hauptüberschrift auf der ersten Lokalseite. Das noch junge Zeitdokument liegt in einer Schatzkiste, zum Sommerfest vor acht Jahren auf dem Gelände des Kinder- und Jugendheims "Arche" vergraben. Mit Spaten, zuletzt gar mit bloßen Händen bergen die Kinder und Jugendlichen den Koffer.
Die Schatzsuche krönt am Sonnabend die Feierlichkeiten zum 60-jährigen Bestehen des Hauses. Die Ehemaligen - Bewohner wie Erzieher - treffen sich, um damals Erlebtes in Erinnerung zu rufen. "Was denken Sie, warum wir hier sind? Um gute Bekannte zu treffen", heißt es immer wieder.
An einem Tisch versammeln sich die ersten Bewohner. Rosi Kluge etwa. "Sag, dass du früher Gronwald geheißen hast. Sonst kennt dich keiner", sticheln die anderen. Sie erzählt: "Ich war schon da, bevor das Haus überhaupt eröffnet wurde." Seit dem 28. April 1948. Zwei Tage vor Eröffnung. Als Zehnjährige zog sie ein, "weil wir keine Eltern mehr hatten. Wir waren alles Kriegswaisen", berichtet sie. Das Heim sei ihr Zuhause gewesen.
Schnell kommt das Gespräch auf Ingeborg Troitsch, die erste Leiterin. Im August wird sie 87. "Es ärgert sie sehr, dass sie heute nicht dabei sein kann", weiß Inge Kubitzky, geborene Lehe, "sie kann so schlecht laufen." Die Frauen reden viel über ihre Heimleiterin. "Wir haben alle Mutti gesagt. Und das würde ich heute genauso machen. Wir haben von ihr vor allem Disziplin, Ordnung und Sauberkeit gelernt. Eine besonders liebenswerte Frau", schwärmt Herta Borchert, deren Mädchenname Busch ist.
Ingeborg Troitsch sei "das Beste gewesen, was uns damals passieren konnte", meint Inge Kubitzky, die in Frankfurt / Oder lebt, aber den Kontakt zu Mutter Troitsch immer gepflegt hat. "Ich muss ihr doch berichten, wie es heute war." Sie wird viel zu erzählen haben. Viel Schönes. "Schon damals wurde uns eingetrichtert: Wenn du etwas erreichen willst, dann benutze deinen Kopf. Denke! Aus uns allen ist etwas geworden", freut sich Rosi Kluge, die als Erzieherin, später als Lehrerin für Kunst und Werken gearbeitet hat. "Wir alle haben im Kinderheim eine gute Erziehung genossen und die Chance auf einen Einstieg ins Berufsleben erhalten. Ich zum Beispiel", betont Inge Kubitzky, "wollte immer Kindergärtnerin werden. Und ich bin es geworden."
Die Runde ist sich einig: Geschadet hat das Heim damals niemandem. Bis zu 50 Kinder lebten hier zeitweise. Heute sind es 20. "Wir haben das Gemeinschaftsleben sehr genossen. Mit sieben oder acht Mädchen auf dem Zimmer. So eine ordentliche Kissenschlacht am Morgen. Fantastisch", lacht Rosi Kluge. "Und wisst ihr noch, wie man U-Boot fährt?" Es bleibt das Geheimnis der ehemaligen Bewohner, die sich plötzlich an das berühmtberüchtigte Schwarze Buch erinnern. Das Buch der Bösewichte. "Wie ich mich kenne, stand ich bestimmt drin." Womit, will Rosi Kluge heute nicht mehr wissen. Dafür berichtet Herta Borchert: "Ich wollte diese Brotsuppe nicht essen. Mir wurde jedes Mal schlecht davon. Aber ich musste. Eine Erzieherin schob mir den Löffel in den Mund und tat mir dabei weh. Vor lauter Wut schüttete ich ihr meine Suppe ins Gesicht." Der Eintrag ins Schwarze Buch nur folgerichtig. Ob es ihr leidgetan hätte? Sie schüttelt den Kopf. "Zur Strafe musste ich drei Wochen lang 43 Paar Schuhe putzen." Eine Sache, für die sie sich heute schämt. Sie weiß: Wäre Ingeborg Troitsch damals im Haus gewesen, wäre so etwas niemals vorgekommen.
Bei Erhard Hayne vielleicht auch nicht. Er kam am 1. April 1960 als Erzieher ins Heim. "Wenn Herr Hayne Dienst hatte, war es bombig", ist zu hören. Warum, weiß er nicht. "Ich bin kein Typ, der schreit. Bei mir muss es piano gehen", sagt er. Einige seiner ehemaligen Schützlinge fragen sich noch heute, wie er plötzlich im Schlafraum stehen konnte. Sie hätten nicht gehört, wie er die Treppe hinauf gekommen war.
Der Köthener Hayne schmunzelt. "Auf leisen Sohlen." Für ihn war es immer wichtig, mit den Kindern etwas zu unternehmen. Wandern durchs Bodetal. Kyffhäuser Berglauf. Radtouren. Im Sommer zelten. Bürgit und Sylvia Fischer, geborene Schmitz, fanden Herrn Hayne manchmal "recht anstrengend: Er hat immer die Fenster aufgerissen, um frische Luft rein zu lassen. Egal, wie kalt es war."
Mit den heutigen Gegebenheiten kann sich der ehemalige Erzieher nur schwer anfreunden. "Es ist alles recht locker und freizügig. Aber es ist auch eine andere Zeit." Martin Dreffke, der das Haus heute leitet, genießt es, so viel Gutes von damals zu hören. Es sei schön, dass ehemalige Bewohner und Erzieher das Jubiläum der "Arche" genutzt hätten, sich wieder mal zu sehen.