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25 Jahre Elend und Ekel Familie Ritter aus Köthen: SternTV-Special mit 105 Minuten Elend und Ekel

Von Matthias Bartl 25.08.2019, 14:52
Kurz vor 18 Uhr: Karin Ritter wartet auf der Treppe des Obdachlosendomizils von Köthen darauf, eingelassen zu werden.
Kurz vor 18 Uhr: Karin Ritter wartet auf der Treppe des Obdachlosendomizils von Köthen darauf, eingelassen zu werden. Matthias Bartl

Köthen - Alexander von Humboldt war eines der größten Genies der Menschheitsgeschichte. Ein Naturforscher, der bis heute die Arbeit von Generationen nachfolgender Naturforscher geprägt und inspiriert hat. Humboldt wäre in diesem Jahr 250 Jahre alt geworden. Ob freilich RTL dem Forscher und Entdecker ein 105-minütiges Stern TV-Special widmen wird, das darf bezweifelt werden. Dafür muss man schon Ritter heißen und aus Köthen (Anhalt-Bitterfeld) kommen.

Dabei waren diese 105 Minuten Elend und Ekel am Mittwoch, passenderweise kurz vor der Geisterstunde, nicht einmal dauerhaft aufmerksamkeitsbindend. Jedenfalls nicht für normal gestrickte Köthener, die mit der kriminellen bis katastrophalen Familie schon seit Jahrzehnten durchaus auch persönliche Erfahrungen gemacht haben und mithin den mittlerweile fünften Aufguss der sechstklassigen Prekariats-Geschichte nach dem Motto empfunden haben: Kenn’ mer doch alles schon.

Blick über die Schulter der Familie Ritter

Was man jenseits der Stadtgrenzen aber eindeutig anders sieht. Denn mit den Ritters haben die Macher von Stern TV einen Quoten-Goldesel gesattelt - was auch ihre Hartnäckigkeit erklärt, den Ritters oder wie sie sich jetzt auch immer nennen wollen (zwei der Söhne firmieren seit einiger Zeit unter anderen Nachnamen - sicher nicht ohne Hintergedanken), in unschöner Regelmäßigkeit über die Schulter blicken zu wollen; und dabei auch die übelsten Beschimpfungen der Protagonisten geflissentlich zu ignorieren. Für die Quote kann man sich schon mal was gefallen lassen.

Und mit der Kernseifenoper aus der Ritterburg kann man Quote machen (und im Special dementsprechend gleich mal mehrere Werbeblöcke unterbringen). Laut Internet-Plattform Quotenmeter hat das Ritter-Special „ausgezeichnete 20,1 Prozent Sehbeteiligung bei 1,10 Millionen jungen Zuschauern“ erreicht. Auch insgesamt sei das Special mit 2,09 Millionen Zuschauern und 12,5 Prozent ein voller Erfolg gewesen.

Familie Ritter: Dramatische Momente in der „Saga“

Danach kann man hochrechnen, wie viele Millionen sich seit 1994 die Berichte über die Familie vom Rand der Gesellschaft angesehen haben. Mit Abscheu, mit Mitleid, mit Wohlwollen. Denn die Familien-Saga hat ja durchaus ihre dramatischen Momente: Kleine Jungs, die mit der Axt die Nachbarin bedrohen, die Mobiliar und Autos kurz und klein schlagen, bevor sie richtig lesen und schreiben gelernt haben - das hat schon was.

Vor allem freilich wirft es einen schonungslosen Blick darauf, dass es eben Fälle gibt, bei denen alle gesellschaftlichen Mittel und sozialen Netze schlichtweg versagen: Dafür steht etwa die Aussage von Barb Gudera, damals Leiterin der Pestalozzi-Schule, die Norman zu ihren Schülern zählte und feststellte: „Wir können nicht mehr helfen.“ Oder Peter Grimm, damals wie heute Leiter des Jugendamtes der Landkreisverwaltung, der nicht nur aufzählt, wen man alles 2007 an den Tisch geholt hatte, um für das Problem Ritter eine Lösung zu finden, sondern der auch in einer Mischung aus Erschütterung und Resignation feststellt, die Ritters seien beratungsresistent.

Gegenseitige Beschimpfungen innerhalt der Familie Ritter

Und natürlich zeigen die Hauptdarsteller in ihren Äußerungen und in ihrem Verhalten selbst, wo die Wurzel des Übels liegt: In ihnen selbst. Das RTL-Spezial ist nämlich nicht nur eine Orgie an Unflat, quasi ein Köthener Kettenraucher-Massaker, sondern auch an gegenseitigen innerfamiliären Beschuldigungen, die jeweils anderen (Sohn vs. Mutter, Mutter vs. Sohn) seien der Grund für die ganze Misere.

Ein wenig von Einsicht zeigen höchstens Sohn Andy („Schuld bin ich selber ein bisschen mit“) und Enkelin Jasmin - was aber in all den Jahren nicht zu echten Konsequenzen und Änderungen geführt hat. Das darf deprimieren: Wenn ein Ritter schon mal Zukunftspläne macht, wird nichts daraus - man steht sich selbst im Weg. In voller Absicht.

Die Sendung geleitet den geneigten Zuschauer durch 25 Jahre einer anhaltenden sozialen Depression. Und einer anhaltenden Inkonsequenz verschiedenster Verwaltungen in ihrem Handeln der Familie gegenüber. Denn Ritters waren nie obdachlos im definitorischen Sinne dieses Wortes, sondern haben auf Kosten der Stadt (und damit der Steuerzahler) im Laufe der Jahrzehnte mehrere Wohnungen in der Stadt be- und verwohnt. Und zwar 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche und so weiter.

Familie Ritter mit Forderungen an den Staat

Haben mit einer atemlos machenden Selbstverständlichkeit an den Staat Forderungen gestellt, ohne im mindestens eine eigene Leistung zu vollbringen. Obdachlosigkeit sieht anders aus - und zwar mit durchaus auch solchen Regelungen, wie sie derzeit greifen. Und wie sie vor allem Karin Ritter nicht passen. Man darf sicher sein, dass Köthens Oberbürgermeister Bernd Hauschild (und nicht er allein) dafür wieder in den sozialen Netzwerken, per Mail und Brief angepisst wird - aber aus Köthener Sicht ist die Schaffung klarer Verhältnisse in punkto des Status der Familie lange fällig gewesen.

Was bleibt im Gedächtnis: Schimpfen, Rauchen, Saufen, Messersammeln, rechtes Gedankengut, Nazisymbolik, Ausländerfeindlichkeit, Drogen, Drohungen, Rechtfertigungen, Aggressivitäten, jede Menge Kriminelles. Aber auch Momente, die tatsächlich berühren: Wenn Norman etwa weint, weil er seine Kinder nicht sehen kann. Wenn Karin Ritter über ihre Eltern redet. Wenn die Matriarchin, deren Einfluss dahingeschwunden ist, in den Kartons wühlt, in denen sie ihr Leben abgelegt hat. Oder wenn sie den Taxi-Gutschein präsentiert, den sie für ihre Fahrten in die Stadt geschenkt bekommen hat. Wenn sie sagt, dass sie bei ihrer Wohnungssuche inzwischen die 27. Absage bekommen hat. Da sieht man plötzlich den Menschen hinter der Mauer aus sozialer Pervertierung.

Und fragt sich natürlich, ob es irgendwann enden wird. Und wie. Ob zum Beispiel Norman, Christopher und Andy irgendwann nicht mehr mit der Regelmäßigkeit eines Jojos in den Knast rein und raus und rein spazieren. Derzeit sind wohl alle weggeschlossen und wenn RTL richtig gerechnet hat, kommt das Trio gemeinsam auf 23 Jahre und zwei Monate Gefängnis - ob darin schon die aktuellen Verurteilungen eingearbeitet sind, wurde in der Fernseh-Saga nicht deutlich.

Problematische Unterbringung von Karin Ritter

Das dringendsten zu lösende Problem allerdings ist die Unterbringung von Karin Ritter, was im TV-Beitrag ebenfalls eine Rolle spielte. Hier steht die Stadt in der Verantwortung - der Winter ist nicht mehr so fern und bis dahin sollte man eine Lösung dafür finden, dass eine 65 Jahre alte Frau von eher desolater Gesundheit nicht mehr tagsüber auf der Straße sitzt. Oder auf ihrem Stammplatz vor dem Eiscafé „Venezia“. Meist allein.

Denn die Familienbande sind inzwischen längst nicht mehr so straff wie einst. Karin Ritter weiß, sehr wohl, dass ihre Jungs für ihr weiteres Leben eine Belastung sind. „Ich hasse meine Jungs, ich verfluche sie“, sagt sie denn auch in die Kamera. Und RTL stellt fest: „Es ist einsam geworden um Karin Ritter.“ Na ja, wenigstens Stern TV wird wohl auch künftig immer mal wieder bei Ritters vorbeischauen.

Köthen hat seit 2011 etwa eine halbe Million Euro in Obdachlosendomizil investiert

Ein kommunales Haus in der Köthener Angerstraße war über Jahre hinweg faktisches „Eigentum“ der Problem-Familie, die dort mehr oder weniger ungehindert schalten und walten konnte. Bis 2015: Da konzentrierte die Stadt alle Obdachlosen, auch die Mitglieder der Familie Ritter, im Objekt Augustenstraße 63. Das Haus war nach einem Brandschaden ab 2011 für rund 300 000 Euro saniert worden und bot hinreichend Platz.

Ab 2017 steckte die Stadt weitere rund 200.000 Euro in erhebliche bauliche Verbesserungen an dem Gebäude, ließ zum Beispiel Duschen einbauen und schuf im Dachgeschoss weitere Wohnräume - vom Standard ausreichend für die temporäre Unterbringung Obdachloser. Die Arbeiten mussten längere Zeit unterbrochen werden, weil die Arbeiter von den Ritters bedroht wurden. Mit Abschluss der Arbeiten beschloss die Stadt, das Objekt wie ein Obdachlosenheim zu führen und es nur noch von 18 bis 8 Uhr zu öffnen. (mz)