Ein ganz besonderes Jubiläum Ein ganz besonderes Jubiläum: Ursula Fischer feiert ihren 100. Geburtstag in Köthen

Köthen - Zu diesem Geburtstag lässt sich der ganz große historische Bogen spannen, wenn man will. Als nämlich Ursula Fischer, eben geboren, schreiend in der Wiege lag, gab 1.600 Kilometer von Hamburg-Bergedorf entfernt der Kreuzer „Aurora“ die Schüsse ab, die die Oktoberrevolution und mit ihr angeblich ein neues Menschenzeitalter einläuteten.
100 Jahre später ist die Geschichte Geschichte. Und Ursula Fischer ist immer noch da. Vielleicht nicht mehr ganz so gesund wie am ersten Tag - wer 100 Jahre alt geworden ist, hat nun mal dieses und jenes Zipperlein zu tragen - aber munter, ja: munter ist die Seniorin allemal und eine Unterhaltung mit ihr das reine Vergnügen.
Ursula Fischer und ihr Mann Emil – demnächst 94 Jahre alt
Nicht zuletzt deswegen, weil die Jubilarin, die am Dienstag „dreistellig“ wurde, diesen seltenen Umstand mit Gelassenheit und Demut betrachtet. Fast schon so, als wäre es ihr peinlich, so alt geworden zu sein. Insofern will Ursula Fischer auch gar nicht übers Alter reden. Oder übers Altern.
Auch gibt sie außer „kalt duschen“ keine Ratschläge dahingehend ab, wie man so alt wird - wobei allerdings der Wohnort der wuseligen Frau schon ein wenig Auskunft darüber gibt, dass Bewegung in dem Kanon nicht unwichtig ist: Ursula Fischer und ihr Mann Emil - demnächst 94 Jahre alt - wohnen in der Springstraße in einem Haus unterm Dach. Wer sie besuchen will, muss 51 Stufen absolvieren, was natürlich für die Bewohner erst recht und vor allem öfter zutrifft.
Ursula Fischer ist das jüngste von neun Geschwistern
Ursula Fischer wird in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren. Ist das jüngste Kind, das jüngste von neun, von denen zwei jung sterben. Der Vater verdiente seine Brötchen als Prokurist und hatte das Haus, in dem Ursula Fischer aufwuchs, selbst gebaut. Sie habe zu ihren Geschwistern ein sehr gutes Verhältnis gehabt, erinnert sie sich.
Und dass dennoch ein Bruch erfolgte, will sie eigentlich gar nicht in ihrer Vita lesen - es ist aber unerlässlich, um die Wegführung eines 100 Jahre langen Lebens zu beschreiben. Als Ursula zehn Jahre alt ist, verlässt der Vater die Mutter. Was Ursula erst nach Bremen bringt, zu einer verheirateten Schwester, und später, nachdem die Mutter einen Schlaganfall erlitten hat, in ein Ursulinerinnenkloster nahe Osnabrück.
Wer jetzt Klage und Jammer über harte Zeiten und strenge Musterung erwartet, verkennt den Charakter der Jubilarin - etwas so anzunehmen, wie es ist und das Beste daraus zu machen. Ganz gut sei es ihr im Kloster gegangen, sagt sie knapp: „Ich war eine fleißige Schülerin.“
Beim Kirchenchor 1939 den ersten Mann kennengelernt
Und sicherlich ein fleißiges Lehrmädel. Dies dann schon in Berlin, wo sie eine Höhere Handelsschule belegte und eine gute Anstellung als Sekretärin bei der Wirtschaftsgruppe Einzelhandel fand. 1939, noch im Frieden lernte sie ihren ersten Mann kennen. Dass dies bei einem Auftritt des Kirchenchors geschah, dem Ursula Fischer angehörte, soll nicht unerwähnt bleiben - die katholische Kirche ist von Kindesbeinen an ein fester Hort und Ort für die junge Frau gewesen und ist es bis heute geblieben.
In der Gemeinde St. Marien hat sie viele Menschen gefunden, die sie als Freunde bezeichnet, viele Menschen, denen es Herzenssache ist, den beiden älteren Herrschaften eine regelrecht biblische Nächstenliebe zukommen zu lassen. Das beginnt bei Pfarrer Armin Kensbock, der sie immer „Fischerin“ nennt und dessen unerschöpflicher Humor sie besonders schätzt.
Und es geht mit vielen anderen weiter: „Die Feuerborns“, listet Ursula Fischer auf, „Henrike Northoff, Uta Seewald-Heeg - alle sind sehr, sehr nett.“ Und viele andere auch, „liebe Menschen, ich kann gar nicht alle aufzählen“.
Schwere Nachkriegszeit für die Offizierswitwe
Zwischen diesen Worten heute und der Hochzeit mit Hans-Elmar Backhaus, einem aus Hildesheim stammenden Gynäkologen, liegen 76 Jahre. Eine Zeit schlimmer wie schöner Erfahrungen. In Zerbst hatte sie geheiratet, war dann nach Köthen gezogen, weil ihr Mann hier eine Anstellung im Krankenhaus fand.
In Köthen kam 1942 Sohn Bernd-Rüdeger zur Welt, in Köthen erhielt sie die Nachricht, dass ihr Mann im November 1943 in der Sowjetunion gefallen war. Hans-Elmar Backhaus war als Oberarzt an der Front, der Zug, mit dem er unterwegs war, fuhr nahe Rogatschow auf eine Mine. „Er hat nie ein richtiges Grab bekommen.“
Das Kriegsende brachte die junge Mutter - zusätzlich zum persönlichen Leid - in ernsthafte existenzielle Nöte, die Besatzer aus dem Osten und ihre örtlichen Vertreter sprangen mit der Offizierswitwe eher ruppig um und erst eine mit Kirchenhilfe aus der westlichen Zone von den Schwiegereltern „eingeschmuggelte“ Finanzhilfe sorgte für leichte Entspannung. „Aber ich bin nie in Depressionen verfallen, egal, wie schwer es auch wurde, den Jungen und mich durchzubringen.“
Inzwischen hat die Hundertjährige sechs Enkel und fünf Urenkel
Zumal es auch den Silberstreifen gab, der immer dann aufscheint, wenn es besonders dunkel ist. „Eines Tages sagte Pfarrer Schulze zu mir: Frau Backhaus, da ist ein Flüchtling aus dem Sudetenland, der will Arzt studieren, hat schon sein Vorphysikum gemacht - haben Sie von ihrem Mann noch etwas, womit man ihm helfen könnte?“
Ursula Backhaus hatte - Stethoskop, Sezierbesteck, Bücher. „Mein Mann“, ist sie überzeugt, „wäre sehr zufrieden gewesen, jemandem dabei zu helfen, zu Ende zu studieren.“ Am Ende wird Emil Fischer nicht Medizin studieren, sondern Journalismus, aber die Wege der beiden werden sich seither nie wieder trennen.
1946 wird geheiratet, ein Jahr darauf bekommt Bernd-Rüdeger einen Bruder namens Michael - beide Söhne sind übrigens Mediziner geworden. Inzwischen hat die Hundertjährige sechs Enkel und fünf Urenkel.
Familie Dreh- und Angelpunkt von Ursula Fischer
Die Familie ist für Ursula und Emil Fischer der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens. Sie war es früher, sie ist es heute umso mehr, da viele Alltagsdinge ohne die Hilfe der Nächsten doch nicht mehr oder wenigstens nicht so geräuschlos zu stemmen wären.
„Das ist so, auch wenn alle 14 Tage eine Haushaltshilfe kommt“, sagt Ursula Fischer. Gäbe es nicht den Sohn Bernd-Rüdeger und seine Frau Christina in Köthen, „dann würden wir vielleicht schon im Heim leben“, überlegt die Seniorin, die selbst kocht, die wäscht und putzt.
Und die dankbar ist auch für die kleinen Dinge, die ihr und ihrem Mann das Leben leichter machen. So hat der Sohn im Flur der Wohnung den Teppich gegen einen weniger sturzriskanten Belag ausgetauscht.
Familie Fischer ist immer mit den Maltesern verbunden – für den Fall der Fälle
In der Wohnung hängt ein Kasten, der die Familie Fischer mit den Maltesern verbindet - ein Notruf, nur für den Ernstfall, der freilich immer eintreten kann. Dass ihre Ärztin regelmäßig nach dem Rechten sieht, empfindet Ursula Fischer als wohltuend, wie sie sich auch darüber freut, dass die Friseuse ins Haus kommt, „Aber manchmal gehe ich auch noch selbst in die Stiftstraße, in Bewegung zu bleiben ist wichtig.“
Was sich auch auf die geistige Beweglichkeit bezieht „Das Gehör lässt zwar nach, das Gehen fällt manchmal schwer“, sagt sie und lächelt, „aber der Kopf ist klar.“ (mz)