Sucht Sucht : Blick in Teufelskreis

Elster - Der Klassenraum verändert beim Aufsetzen der Drogenbrille sofort seinen herkömmlichen Grundriss. Die Tafel bekommt fließende Formen, die Seitenwände verschwimmen. Alles wirkt surrealistisch, der Kreislauf kommt in Schwung. Auf einem Tisch stehen Becher bereit, aus denen jeder Proband eine Pyramide bauen muss. Die Hände greifen des Öfteren ins Leere, der Körper beginnt zu schwanken.
Prüfung Nummer zwei ist hochprozentig. Die Drogen- wird gegen eine Rauschbrille (1,3 bis 1,5 Promille) getauscht. Polizeioberkommissar René Walther, der als Regionalbereichsbeamter zuständig für Zahna-Elster ist, weist aus dem Hintergrund die nächste Aufgabe an. Trotz verschwommener Aussicht muss jeder Schüler der Klasse 9a das Wort „Sekundarschule“ an die Tafel schreiben. Die meisten Teenager meistern die Herausforderung mit Bravour, bei einigen ist die Handschrift laut Polizeioberkommissar „leicht verbesserungswürdig“.
An der dritten Station laufen die Schüler aus Elster über einen Teppich der Deutschen Verkehrswacht, der eine Art Hindernisparcours darstellt. Mit der Rauschbrille auf der Nase ist es schwierig, auf dem gekennzeichneten Weg zu bleiben. Walther leistet bei Bedarf Hilfestellung und wirft den Verkehrsteilnehmern Bälle zu. Bei diesem lustigen Katz-und-Maus-Spiel sind die Jugendlichen meist zweiter Sieger. Das Projekt „Vollrausch - Verlorene Lebenszeit“ des Landeskriminalamtes (LKA) kommt bei den Teenagern gut an. Trotz des ernsten Hintergrunds wird gescherzt und gelacht. Der Atemalkoholtest beweist: Alle sind am Mittwoch nüchtern zum Unterricht erschienen.
Erschreckende Erkenntnisse
Als Hanna Züchner durch die Drogenbrille schaut, schießen ihr im ersten Moment Worte wie „heftig“ oder „krass“ durch den Kopf. Die 15-Jährige versucht, beim Pyramidenbau ruhig zu bleiben und findet es gut, dass ihre Freundinnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Die Schülerin aus der 9a ist noch nie mit Drogen in Berührung gekommen. Daher findet sie es erschreckend, dass Menschen im Rausch durch den Tag torkeln.
Zudem zeigen sie ihre schlechten Seiten. „Man nimmt alles total verschwommen wahr und macht sich lächerlich“, sagt sie und verrät, dass sie plötzlich beide Hände nicht mehr gesehen hat. „Da habe ich Angst bekommen.“ Der Blick durch die Brillen habe ihr die Augen geöffnet. Später, erzählt die 15-Jährige, will sie als Erzieherin im Kindergarten arbeiten und selber Mutter zweier Kinder werden. Zu ihren Lieblingsfächern zählt Hanna Züchner Musik, Deutsch, Geografie und Kunst.
Der Zeugnisausgabe am morgigen Freitag sieht das Mädchen entspannt entgegen. Anschließend steht Wintersport in Bayern auf dem Programm. Musikalische Vorlieben? „Deutscher Rap, aber auch Techno“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Die Prüfungen mit der Rauschbrille besteht der Teenager fehlerfrei.
Ethiklehrerin Beate Hentschel hat zwar keine Lust, den Probanden zu spielen, doch wenn Hilfe benötigt wird, ist die Pädagogin zur Stelle. Es sei wichtig, sagt sie, dass die Polizei mit solch einem Projekt an die Schulen geht und den Jugendlichen aufzeigt, wie schnell man in den Teufelskreis Sucht geraten kann. Irgendwann wird jeder in seinem Leben mit Dingen wie Alkohol oder Zigaretten konfrontiert.
Deshalb sind kontinuierliche Präventionsmaßnahmen wichtige Bausteine in Sachen Aufklärung, Sensibilisierung und visuelle Wahrnehmung. „Wir werden dieses Projekt jetzt jedes Jahr an unserer Sekundarschule durchführen. 2020 sind die achten Klassen dran.“
Gespräche mit Tiefgang
Eine Etage tiefer ist Polizeioberkommissarin Johanna Schröder-Rimkus vom Revier Wittenberg voll in ihrem Element. Sie spricht mit den Jugendlichen über Beschaffungskriminalität, Prostitution, Zuhälterei sowie den Absturz mit Verlust der eigenen Persönlichkeit und betont unmissverständlich, dass einen Drogendealer nur Gewinnmaximierung interessiert. Auf insgesamt 30 Schautafeln wird eindrucksvoll dargestellt, welche Sorten von Drogen auf dem Markt sind und welchen Schaden sie am Menschen anrichten.
Die Polizeioberkommissarin betont, dass Drogen und Eigenbedarf gerade von Jugendlichen falsch in Zusammenhang gebracht werden und lässt deshalb einen Jungen aus dem Betäubungsmittelgesetz vorlesen. Hier heißt es im Paragraf 29 wörtlich: „Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft“. Danach herrscht Schweigen im Klassenraum.
Das Thema Tagessatz (im Fall einer Bestrafung) sorgt unter den Teenagern für einen unfreiwilligen Lacher - Lehrerin Beate Hentschel schlägt vor Scham die Hände vors Gesicht. Schröder-Rimkus konstruiert zur Begriffserläuterung ein ganz einfaches Beispiel. Nettoverdienst 900 Euro geteilt durch 30 sind??? 90 geteilt durch drei? Mehr als Achselzucken oder erstaunte Blicke kassiert die Polizeioberkommissarin nicht. Hier die Auflösung: 900 : 30 = 30.
(mz)