Karl Lamprecht Karl Lamprecht: Historiker mit Weitblick
Jessen/MZ - Der Leipziger Professor Karl Lamprecht, der am 25. Februar 1856 in Jessen geboren wurde, gehört zu den bedeutendsten Historikern Deutschlands. Er wuchs im Pfarrhaus neben der Jessener St.-Nikolai-Kirche auf, an dem heute eine Gedenktafel an ihn erinnert. Die längste Zeit seines Lebens verbrachte er im Rheinland und in Leipzig, doch seiner Heimatstadt blieb er immer verbunden und setzte ihr mit seinen „Kindheitserinnerungen“ ein literarisches Denkmal.
Im Rheinland, wo Karl Lamprecht nach Schule und Studium die erste Arbeitsstelle erhielt, machte er sich durch seine regionalgeschichtlichen Forschungen und durch seine Mitarbeit bei der Gründung der heute noch bestehenden „Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde“ verdient.
Kulturelle Entwicklung im Blick
Er beschränkte sich dabei nicht auf die Erforschung kleiner Abschnitte des historischen Geschehens, sondern suchte immer, die Ereignisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Als treibende Kraft der historischen Entwicklung sah er nicht das Wirken von Einzelpersonen, sondern die gesamte wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung einer Nation an. Das bedeutete eine Abkehr Lamprechts von der rein politischen Beschreibung der Geschichte hin zur Erforschung auch der wirtschaftlichen und kulturellen Geschichte. Als Ergebnis seiner Forschungen kam er zu der Erkenntnis, dass die Entwicklung einer Nation nicht gleichmäßig, sondern in aufeinander folgenden Kulturzeitaltern verläuft. Diese Kulturzeitalter, wie er sie einteilte, sollten die jeweilige wirtschaftliche Entwicklung widerspiegeln.
Auch als Professor an der Leipziger Universität (seit 1891) vertrat er die gleichen Ansichten. In seiner „Deutschen Geschichte“, deren erster Band 1891 erschien, versuchte er, seine Meinungen über die Stufen der Entwicklung der „kollektiven Seele auf das deutsche Nationalbewusstsein anzuwenden und die Gesetzmäßigkeit der Geschichte des deutschen Volkes zu erläutern“. Zu seiner Zeit, also um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, spielte allerdings der Begriff der „Nation“ eine andere Rolle als heute. Seine Überlegung, dass diese Gesetzmäßigkeiten auch für andere Völker zutreffen müssten, führte ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte verschiedener Völker mit dem Ziel, allmählich die gesamte Menschheit zu erfassen, das heißt Weltgeschichte zu schreiben.
Dabei verlor er aber die Regionalgeschichte nicht aus den Augen. So erfolgte auf seine Initiative die Gründung der Königlich-Sächsischen Kommission für Geschichte. Verdienste erwarb sich Lamprecht auch bei der Gründung des Deutschen Historikerverbandes. Auf sein maßgebliches Betreiben entstand 1913 die König-Friedrich-August-Stiftung, eine Art sächsisches „Gegenstück“ zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft). Für diese Stiftung gewann er zahlreiche private Sponsoren, sie war eine der größten Wissenschaftsinitiativen vor dem Ersten Weltkrieg.
Flüchtigkeitsfehler gemacht
Trotz dieser Verdienste wurden die wissenschaftlichen Ideen Lamprechts damals von der Mehrzahl der deutschen Historiker abgelehnt. Die Einteilung der Kulturzeitalter und die Einbeziehung von Wirtschafts- und Kulturgeschichte in die historische Forschung wurden heftig angefeindet. Durch sein Streben, seine Erkenntnisse möglichst schnell zu verallgemeinern, unterliefen ihm leider viele Flüchtigkeitsfehler, die es den Gegnern erleichterten, ihm unsolides Arbeiten nachzuweisen. Obwohl Lamprecht wegen seiner Ansichten bei den deutschen Historikern kaum Ansehen genoss und aus ihrer Zunft praktisch ausgeschlossen wurde, stießen seine Veröffentlichungen bei Historikern außerhalb Deutschlands auf großes Interesse. So hatte er großen Einfluss auf die Anfänge der französischen Strukturgeschichte und die amerikanische so genannte „Neue Geschichte“. Heute wird die Bedeutung Lamprechts doch realistisch gesehen. Der Historiker Moriz Ritter musste schon 1919 zugeben: „Lamprecht hat mitten in den Irrtümern vielversprechende Anregungen gegeben.“
Schon wegen dieser Anregungen sollte Karl Lamprechts Leben nicht in Vergessenheit geraten, vor allem nicht in seiner Geburtsstadt Jessen am Flusslauf der Schwarzen Elster, deren wohl bedeutendster Sohn er bis heute ist.
Rolf Schumann lebt in Holzdorf und ist Mitglied der Karl-Lamprecht-Gesellschaft Leipzig.