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Jessener Kirche St. Nikolai Jessener Kirche St. Nikolai: Interessante Retrospektiven zum Mauerfall

Von Sven Gückel 11.11.2019, 10:12
Nach dem Gottesdienst hatten die Konfirmanden Gelegenheit, mit Pfarrer Tobias Bernhardt und Bürgermeister Michael Jahn zu sprechen.
Nach dem Gottesdienst hatten die Konfirmanden Gelegenheit, mit Pfarrer Tobias Bernhardt und Bürgermeister Michael Jahn zu sprechen. Sven Gückel

Jessen - Mit einem festlichen Gottesdienst gedachten Mitglieder der evangelischen Kirchgemeinde Jessen aber auch Gäste am Samstagnachmittag in der Nikolaikirche des Mauerfalls im Jahr 1989. Einige Lieder, kurze Gebete, vor allem aber zwei Lebensgeschichten zogen die Zuhörer in den Bann. Ihre Biografien hätten unterschiedlicher nicht sein können. Auf der einen Seite der Pfarrerssohn, der das Erbe seines Vaters gern fortführen wollte, andererseits der künftige Offizier, dessen Berufswunsch ebenfalls väterlich geprägt war.

Und dennoch sind sich Tobias Bernhardt und Bürgermeister Michael Jahn ähnlicher als man glauben mag. Denn beide sahen es trotz unterschiedlicher Sozialisierung zu DDR-Zeiten als ihre Pflicht an, das damalige Heimatland notfalls auch mit der Waffe zu verteidigen.

Mit diesem Bekenntnis sorgte Tobias Bernhardt schon zu Beginn seiner Predigt für Erstaunen. Jessens Pfarrer, der sich über viele Besucher anlässlich des Gottesdienstes zum 30-jährigen Mauerfall freute, berichtete offen, ehrlich und teils mit mahnenden Worten über seinen Weg in das vereinte Deutschland.

Der Fall der Berliner Mauer, sagt er heute, sei nicht nur das Ende der DDR, sondern schlichtweg ein Neuanfang gewesen. Und das inmitten des Laufs der Geschichte. „Verglichen mit der Ewigkeit sind 30 Jahre nicht einmal ein Wimpernschlag“, so der Pfarrer. Dennoch geben sie ausreichend Gelegenheit, Gutes und Böses, Leben und Tod zu erfahren. „Wir sollten dieses Jubiläum daher nutzen, um uns zu erinnern und zu besinnen“, betonte er.

Es liege in der menschlichen Bestimmung, immer wieder neu zu beginnen, fügte Bernhardt an. 21 Jahre seines Lebens war für ihn die DDR gelebter Alltag. Vieles von dem möchte er gern vergessen. Doch zu seinem Entsetzen verschwindet es nicht, sondern kommt wieder.

„Zuhause, an unserem Küchentisch, sind die Gedanken frei. Draußen jedoch müssen sie sich dem Mainstream anpassen. Wie zu DDR-Zeiten sagt man uns wieder, was gut und was schlecht ist“, sagte er.

Eine unbeschwerte Kindheit, außerordentliche Lehrer und die erste große Liebe, das bleibe im aus den ersten 20 Lebensjahren positiv in Erinnerung. Gleichwohl verachtet er den Satz: „Es war nicht alles schlecht.“ Dieser, so Bernhardt, tue keinem gut. Zum Leben gehört nicht nur das Haben, sondern auch das Sein. „Dabei sind wir vielfach auf der Strecke geblieben“, so Bernhardt. Aus seiner Sicht ist dies eines der Probleme der Ostdeutschen.

Eine militärische Karriere und ein unbeschwertes Leben in der DDR hatte sich auch Michael Jahn von seinem Berufswunsch Offizier versprochen. Nach der Offiziersschule kam der junge Kampfpilot 1984 nach Holzdorf, bereit, am Steuer einer MIG-21 das Heimatland zu verteidigen.

Den letzten Flug absolvierte er am 18. Dezember 1990. Das neue, vereinte Deutschland brauchte ihn und sein Flugzeug nicht mehr. Vielmehr gab es Jahn den Ratschlag, sein Glück nun selbst in die Hände zu nehmen. „Die erste Erkenntnis, die ich dabei gewann, war, mit 28 Jahren für eine Ausbildung als Verkehrspilot bei der Lufthansa schon zu alt zu sein“, blickte Jessens Bürgermeister in seiner Rede zurück.

Jahn schulte um, wurde Bereichsleiter einer Krankenkasse. „Die neue Gesellschaftsordnung überzeugt mich mehr als die vorhergehende“, lautet sein persönliches Credo. Sie habe noch viele Ecken und Kanten, biete aber dennoch eine friedliche und solidarische Basis. Bin ich Ossi oder Wessi? Diese Frage, sagt Pfarrer Bernhardt, beschäftige die Kinder nicht mehr. „Für sie gibt es nur noch ein Deutschland. Und das stimmt mich zuversichtlich.“ (mz)