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Musik Der Mann mit der Drehleier in Kolonie

Jahrzehntelang suchte Ronald Winkler nach dem Ursprung eines Ohrwurms. Wie er zu seine Berufung fand und zum Neuheitentester wurde.

Von Annette Schmidt 16.08.2021, 09:35
Ronald Winkler spielt auf einer von nur sechs existierenden voll-dynamischen Drehleier, das Instrumenten ist die erste Neuerung seit 1.000 Jahren.
Ronald Winkler spielt auf einer von nur sechs existierenden voll-dynamischen Drehleier, das Instrumenten ist die erste Neuerung seit 1.000 Jahren. (Foto: A. Schmidt)

Kolonie - Wenn Ronald Winkler zu musizieren beginnt und man ihm mit geschlossenen Augen zuhört, könnte man schwören, eine ganze Band mit Violine, Schlagzeug und Dudelsack würde gerade aufspielen. Aber das, was da im heimischen Wohnzimmer des 53-Jährigen soviel Klangraum einnimmt, ist bloß eine einzelne Drehleier.

Das älteste Streichinstrument

Das Instrument, dessen Handhabung er als eine Mischung aus Kaffeemühle, Geige und Klavier beschreibt, ist eines der ältesten belegten Streichinstrumente Europas. Im Barock mauserte es sich vom mittelalterlichen Bettlerinstrument zum Musikinstrument der Könige. Selbst so berühmte Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart komponierten Stücke für die Drehleier. Mit der Zeit und der Mode ging das Wissen um das anspruchsvolle Instrument verloren.

Der deutsche Instrumentenbauer Kurt Reichmann entdeckte in den 1960er-Jahren in einer Steinskulptur der Kathedrale von Santiago de Compostela (Spanien) das Instrument wieder und baute es nach. Seitdem erlebt die Drehleier eine regelrechte Wiederbelebung. Den meisten wird ihr Klang von Mittelaltermärkten bekannt sein, aber auch in der Folk-, Rock- und Jazzmusik findet sie Verwendung, erklärt der begeisterte Musiker und Drehleierlehrer.

Er nennt eine beachtliche Instrumentensammlung sein Eigen. Dazu zählt die Schwarze-Leier des französischen Musikers Gilles Chabenat. Vor Jahren habe er eine CD von Chabenat gehört, „Der Klang dieses Instrumentes hat mich komplett angefixt. Für mich ist diese Drehleier wie die Gitarre von Jimi Hendrix.“ Besagtes Instrument sieht zwar wie eine gewöhnliche Drehleier aus, in ihr jedoch steckt vergleichbar einer E-Gitarre elektronische Technik und einiges an Verstärkern.

Das Herzstück der Sammlung, die Schwarze-Drehleier von Gilles Chabenat.
Das Herzstück der Sammlung, die Schwarze-Drehleier von Gilles Chabenat.
(Foto: Ronald Winkler)

1.000 Jahre Stillstand

Ein weiteres Prunkstück der Sammlung fällt weniger ins Auge. Die unscheinbare Leier mit dem kunstvoll geschnitzten Pferdekopf, dem er so leicht Musik entlockt, ist jedoch nichts weniger als eine instrumentale Revolution. Bisher wurden gerade einmal sechs Stück weltweit gebaut. „Bis auf den Schnarrsteg vor gut 500 Jahren, hat die Drehleier in den letzten 1.000 Jahren keinerlei Neuerungen oder Veränderungen erfahren“, erklärt Ronald Winkler. Diese Leier steckt voller Innovationen und wurde von Peter Streng in Bayern gebaut. Nach jahrelangem Tüfteln entstand die voll-dynamische Drehleier.

Mit den Veränderungen ist es möglich, ohne elektrische Unterstützung, lauter und leiser zuspielen und die Oktaven während des Musizierens zu wechseln. „Für die Drehleier ist das ein ganz neues Level. Sie ist der Maybach unter den Leiern“, sagt Ronald Winkler, der weiter ausführt, dass er einer der wenigen ist, die nun herausfinden, was das Instrument kann und auch neue Stücke komponieren.

Musik im Kopf

Vor fast 25 Jahren begann Ronald Winkler mit dem Spielen der Drehleier. Doch seine Leidenschaft für das außergewöhnliche Instrument liegt viel weiter zurück. Schon als Kind habe er eine bestimmte Melodie mit einem ganz speziellen Klang im Kopf gehabt. Deren Ursprung er sich jedoch viele Jahre nicht erklären konnte. „Gitarre und Dudelsack kamen dem zwar nahe, aber es war nie der Klang in meinem Kopf“, erinnert sich der studierte Pädagoge.

Erst auf einem Konzert der deutschen Folkband Wacholder hatte der damals 18-Jährige endlich seinen Aha-Moment, als einer der Musiker ein Stück auf einer Drehleier spielte. Noch ein paar Jahre später hörte Ronald Winkler schließlich seine Ohrwurm-Melodie in der Defa-Märchenverfilmung „König Drosselbart“ von 1965 wieder. „Als verkleideter Bettler spielt Hauptdarsteller Manfred Krug eine Drehleier. Es war exakt das Lied, das ich so lange gesucht hatte. Ich muss den Film als Kleinkind gesehen haben und dabei ist der Klang bei mir hängen geblieben.“

Obwohl er sein Instrument endlich gefunden hatte, blieb er zunächst dem Gitarrenspiel treu. Ein Unfall 2003, der seine rechte Hand schwer in Mitleidenschaft zog, zwang ihn regelrecht zur Leier. „Ich wusste in diesem Moment, das ich Musiker und nicht Gitarrist bin, denn für mich war das Musizieren wichtiger als das Instrument.“

Musikalischer Ritterschlag

Als ihn seine Lehrerin Silke Reichmann, die Tochter des eingangs erwähnten Instrumentenbauers, 2009 bat, ihre Klasse ersatzweise zu unterrichten, „war das für mich wie ein Ritterschlag. Seitdem kann ich, dank der Drehleier auch meinen Traumberuf als Lehrer ausüben.“

Vor Corona lehrte Ronald Winkler als Lehrer in Workshops.
Vor Corona lehrte Ronald Winkler als Lehrer in Workshops.
(Foto: Ronald Winkler)

Vor Corona unterrichtete der gebürtige Naumburger, der vor 30 Jahren der Liebe wegen nach Kolonie gezogen ist, die Leier in Workshops und Einzelunterricht.

Der Projektmensch Ronald Winkler ist seiner Drehleier sehr ähnlich. So wie in dem Instrument viele verschiedene Instrumente stecken, vereint er ein ganzes Ensemble von Fähigkeiten und Tätigkeiten.

Er war Weinbergschneckenzüchter, ist Gründungsmitglied der Bogenschützen im Annaburger Schützenverein, Amateurfunker und Mitbegründer des Annaburger Kultur und Theatervereins. Er hofft, bald diesen Leidenschaften wieder nachgehen zu können - wenn es die Pandemielage zulässt. (mz)