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Zweiter Weltkrieg Zweiter Weltkrieg: Wie eine junge Lehrerin den Wahnsinn in Brachwitz stoppte

Von Dirk Skrzypczak 10.09.2017, 15:33
Eva Kühne hatte 1945 Brachwitz vor der Zerstörung bewahrt.
Eva Kühne hatte 1945 Brachwitz vor der Zerstörung bewahrt. Heimatverein

Friedrichsschwerz - Das Schwarz-Weiß-Foto auf der Gedenktafel zeigt eine hübsche junge Frau. Eva Kühne war 27 Jahre alt, als sie am 15. April 1945 mit dem Fahrrad von Friedrichsschwerz in das benachbarte Brachwitz fuhr, um dort Lebensmittel zu organisieren.

Wusste sie, dass sie sich in die Feuerlinie begab? US-Soldaten der 104. Infanteriedivision, die „Timberwölfe“, hatten in Brachwitz die Saale überquert. Sie rückten auf Halle vor, und in der 800-Seelen-Gemeinde stellte sich der schieren Übermacht ein Häufchen von 50 Deutschen entgegen, die Heimat zu verteidigen, ein sinnloses Unterfangen.

Wunder von Brachwitz: Junge Lehrerin stand mitten auf dem Schlachtfeld und verhinderte den Kampf

Plötzlich war Eva Kühne mitten auf dem Schlachtfeld. Der Lehrerin mit guten Englischkenntnissen gelang es, zwischen den Kriegsparteien zu vermitteln und ein Blutbad zu verhindern. „Sie war mutig. Das habe ich nicht von ihr geerbt“, sagt Jochen Kühne, ihr Sohn.

„Das kleine Wunder von Brachwitz“ steht auf der Erinnerungstafel, die jetzt in Friedrichsschwerz enthüllt wurde. „Für uns ist sie eine Heldin. Ohne ihr Eingreifen hätten die Amerikaner unsere Orte dem Erdboden gleichgemacht“, sagt Helmut Böltzig.

Zehn deutsche und drei amerikanische Soldaten starben in Brachwitz, bevor Eva Kühne den Wahnsinn stoppte

Der 87-Jährige war 14, als der Zweite Weltkrieg nicht nur in Brachwitz, sondern auch im Steinbruch von Friedrichsschwerz sein Ende fand. Vor mehreren Jahren hatte er mit seinem Bruder Wilfried und anderen Mitstreitern im Heimatverein mit seinen Nachforschungen begonnen. Was ist damals wirklich passiert? „Ich habe im Krieg meinen Bruder Gerhard verloren. Er war 17 und ist bei einem Gefecht im Harz so schwer verletzt worden, dass er wenig später im Lazarett starb. Er und alle anderen Opfer sind es wert, dass die Erinnerungen an diese Zeit nicht verloren gehen. Und natürlich Eva Kühne“, sagt Helmut Böltzig. Zehn deutsche und drei amerikanische Soldaten starben in Brachwitz, bevor die Lehrerin den Wahnsinn stoppen konnte.

Die betagten Geschichtsbewahrer des Heimatvereins haben zu der festlichen Einweihung der Tafel am Kriegerdenkmal Aufstellung genommen. Jürgen Otto aus Brachwitz singt „Sag mir, wo die Blumen sind ...“; Bürgermeisterin Antje Klecar (parteilos) schießen die Tränen in die Augen.

Familien mit ihren Kindern sind gekommen, auch Rechtsanwalt Matthias Maurer aus Halle, Präsident der Luckner-Gesellschaft. Felix Graf von Luckner hatte 1945 die Stadt Halle vor ihrer vollständigen Zerstörung bewahrt, Maurer hat darüber ein Buch geschrieben. Eva Kühne aus Friedrichsschwerz hat nicht minder Großes geleistet. Es gibt nichts Ehrenvolleres, als Menschenleben zu retten.

Schlacht in Brachwitz verhindert: Von der Heldentat seiner Mutter hat Jochen Kühne lange nichts gewusst

Von der Heldentat seiner Mutter hat Jochen Kühne lange nichts gewusst. Sein Vater Hans hatte den jungen Hans-Dietrich Genscher in Halle unterrichtet und zum Abitur geführt. „Aus Angst vor den Sowjets ist meine Familie allerdings kurz nach dem Krieg in den Westen gegangen und ins Rheinland gezogen“, erzählt er.

Das Schicksal meinte es nicht gut mit Eva Kühne. 1958 starb sie viel zu früh an Krebs. „Ihr Tod hatte mich sehr getroffen. Ich habe Medizin studiert und bin Internist geworden, um anderen helfen zu können“, sagt der heute 70-Jährige. In den 1960er Jahren verbrachte Jochen Kühne seine Ferien auch in Halle, kam so nach Friedrichsschwerz. „Das Dorf hatte eine Schotterstraße, über die das Wasser lief. Es ist unglaublich, wie sich dieser Ort gemausert hat.“

Tatsächlich ist der Heimatverein der Motor für das dörfliche Leben. Unweit des Kriegerdenkmals erinnert ein Stein an Friedrich den Großen, den die Siedlung 1769 ihre Wiedergründung verdankt. Dort steht auch das Modell der 1970 abgerissenen Kirche. 1945 spielte das Gotteshaus eine wichtige Rolle. Die Glocke läutete als Zeichen der Kapitulation. Heute ist sie in Brachwitz. Der Heimatverein hätte sie als Mahnmal gern zurück. (mz)

Jochen Kühne und Helmut Böltzig an der Erinnerungstafel.
Jochen Kühne und Helmut Böltzig an der Erinnerungstafel.
Lutz Winkler
Wilfried Böltzig sitzt am Modell für die 1970 abgerissene Kirche.
Wilfried Böltzig sitzt am Modell für die 1970 abgerissene Kirche.
Lutz Winkler