Zweiter Weltkrieg Zweiter Weltkrieg: Das Wunder von Halle

Halle (Saale) - Auf der Kampfuniform des US-Soldaten war ein grauer Wolfskopf genäht. Der Soldat bewachte an der alten Moritzburg in Halles Innenstadt ein Quartier seiner 104. Infanteriedivision, die sich „Timberwölfe“ nannte. Der Wachposten hatte sich einen Stuhl herausgestellt. Auf einem Schild stand: „Nothing in the hell can stop the Timberwolfes!“ Der lässige GI, der auf dem Stuhl „lümmelte“ – an dieses Bild erinnert sich der Hallenser Fritz Böttcher heute noch genau. Wie auch an seinen „ersten“ Amerikaner. Der war einige Tage zuvor in dem völlig überfüllten Bunker aufgetaucht, in dem der damals 15-Jährige seit zahllosen Stunden hockte. „War is over“, hatte der „Ami“ gesagt, verschwitzt und dreckverschmiert, den Stahlhelm schief auf dem Kopf, die MP im Anschlag. Und im Dunkeln des Bunkers erklang der beruhigende Ruf: „No bomb!“
Keine Bomben! Tatsächlich gilt Halle als die einzige deutsche Großstadt, die von einem großen Flächenbombardement verschont blieb. Dabei waren die Maschinen schon zum Start bereit. Knapp 900 Flugzeuge. Um Null Uhr am 17. April 1945 sollten ihre Bomben die Stadt auslöschen. „30 bis 40 Prozent der 250 000 Einwohner, Flüchtlinge und Verwundeten wären dabei getötet worden“, hat der hallesche Historiker Erwin Könnemann geschätzt. Unzählige Gebäude der mittelalterlichen Stadt wären in den Schutt des Dritten Reiches gefallen.
Dazu ist es nicht gekommen. Die Rettung in letzter Minute gilt vielen als „Wunder von Halle“. Sie ist auch mehreren Hallensern zu danken, die mutig die Initiative ergriffen.
Immer dramatischer war die Situation in Halle geworden. Als die Spitzen der „Timberwolf“-Division am 14. April Halles Stadtrand erreichten, sah es noch nicht nach Kapitulation aus. Wenige Stunden zuvor hatten deutsche Soldaten neun Saale-Brücken gesprengt. Im mühsamen und gefährlichen Häuserkampf rückten die Amerikaner dennoch am nächsten Tag vom Norden vor. Der Widerstand wurde heftiger. Timberwolf-Befehlshaber General Terry Allen geriet unter Druck. Er hatte einerseits Befehl aus Washington, schnell voranzukommen. Andererseits wollte er eigene Verluste vermeiden. Die Bombardierung Halles schien dafür der „leichteste“ Weg. Nachdem ein Ultimatum verstrich, orderte General Allen die Bomber um Mitternacht.
Lange war Halle von Bomben-Angriffen weitestgehend verschont geblieben. Erst in den letzten Monaten hatte es einige starke Bomberangriffe gegeben. Nach Schätzungen waren dabei seit Juli 1944 mindestens 1 200 Hallenser gestorben. Aber nur rund zehn Prozent der Gebäude, so Halles Stadtarchivar Ralf Jacob, wurden zerstört.
Auf der nächsten Seite: Hallenser stellen sich gegen Vernichtung. So nimmt das "Wunder" seinen Lauf.
Nun aber drohte die totale Vernichtung. Einige mutige Hallenser wurden aktiv, um die Katastrophe abzuwenden. So hatte die Widerstandsgruppe um den Universitätsprofessor Theodor Lieser Tausende Flugblätter gedruckt. Darin wurden die Hallenser aufgefordert, weiße Fahnen herauszuhängen. Laken auf die Dächer zu legen. Der Erfolg war eher gering, auf die Fenster der „Volksverräter“ wurde geschossen. Es gibt auch einen Bericht, wonach einige Frauen mit ihren Kindern auf den Markt zogen. „Meinen Mann hat mir der Krieg genommen, meine Kinder will ich behalten“, habe dabei eine Frau gerufen. Der Platz wurde geräumt. Seltsamerweise fiel dabei kein Schuss.
Ein mutiges Zeichen war sicher auch, dass Hauptmann Fritz Hartnagel, enger Freund der Widerstandskämpferin Sophie Scholl, als Leiter der Fliegerschule mit Soldaten den Amerikanern entgegen zog und sich ergab. Zuvor sollte er für diese beabsichtiget Kapitulation erschossen werden. Sein Adjutant befreite ihn mit Waffengewalt - und starb dabei.
Doch wirklich entscheidend für die Rettung Halles waren die Verhandlungen. Schon Tage vorher hatte es erste Kontaktversuche zu en Amerikanern gegeben. Angesichts des Ultimatums vor der Bombardierung bedrängten einige prominente Hallenser den Kampfkommandanten Halles sowie den SS-Oberbürgermeister, wenigstens das Stadtzentrum zu räumen. Dies war ein kluger Kompromiss zwischen der Kapitulation, die der Kampfkommandant ausschloss, und der von Berlin geforderten Verteidigung „bis zum letzten Mann“. Man einigte sich auf den Teil-Rückzug, wenn auch nur inoffiziell.
Wenige Stunden vor der beschlossenen Bombardierung nun fuhr der bei den Amerikanern sehr populäre Felix Graf Luckner aus Halle – ohne offizielles Mandat – in Begleitung von Major a. D. Karl Huhold durch die Frontlinie zu den Amerikanern. Und er erreichte im persönlichen Gespräch, den Aufschub der Bombardierung. Indessen zogen sich die verbliebenen Verteidiger Halles in der Nacht tatsächlich in den Süden der Stadt zurück. Als die „Timberwölfe“ am Morgen des 17. April vorrückten, stießen sie im Zentrum kaum auf Widerstand. Ihnen kam sogar eine Straßenbahn entgegen! Halle war vergleichsweise intakt geblieben. Auf den Straßen liefen Passanten.
Die Kämpfe im Süden der Stadt dauerten noch bis zum 19. April. Die letzten Verteidiger hatten Halle verlassen. Das Kriegstagebuch der „Timberwölfe“ vermeldet emotionslos den Sieg für 10.55 Uhr: „The days operations were highlighted by the successful conclusion of the four-day assault and reduction of HALLE at 1055.“
Einen Tag später, der Hallenser Fritz Böttcher erinnert sich, meldet der Großdeutsche Rundfunk, dass in Halle „die auf engstem Raum zusammengedrängte Besatzung der Übermacht erlegen ist“. Und weiter: „Berlin bleibt deutsch!“ (mz)
