"Wir müssen wachsam sein" "Wir müssen wachsam sein": Halles Amtsärztin über die Corona-Situation in der Stadt

Halle (Saale) - Seit Beginn der Corona-Pandemie in Halle hat Amtsärztin Christine Gröger eine Schlüsselposition im Kampf gegen das Virus inne. Die Pressekonferenzen der Stadt, live ins Internet übertragen, haben der promovierten Kinderärztin zudem Popularität und Anerkennung eingebracht.
Mit Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) und der Sozialbeigeordneten Katharina Brederlow stellte sich die 53-Jährige täglich den Fragen von Journalisten. Wochenlang arbeitete sie zudem mit ihrem Team an der Belastungsgrenze. Mittlerweile hat sich die Corona-Lage in Halle entspannt. Hat die Stadt das Gröbste überstanden? Für die MZ hat Dirk Skrzypczak mit der Amtsärztin gesprochen.
Nur noch neun Neuinfektionen innerhalb eines Monats: Kann Halle endlich aufatmen?
Christine Gröger: Das ist eine Frage, die ich Ihnen nicht wirklich beantworten kann. Keiner weiß es. Wir müssen weiterhin sehr achtsam sein. In einigen Ländern ist die zweite Corona-Welle bereits angelaufen - und nicht wie erwartet erst mit der nächsten Grippesaison im Herbst.
Gibt es Schätzungen, wie hoch die Dunkelziffer der Infizierten in Halle sein könnte?
Nein. Wir können aber sagen, dass es mehr Infizierte gibt, als offiziell registriert sind. Die letzten Corona-Fälle, die wir hatten, kamen durch Zufallsbefunde ans Licht. Klinisch gab es keine Anzeichen für das Virus. Die Erkrankten zeigten keine Symptome. Das macht es auch so schwer, die Zahl der tatsächlich Infizierten abzuschätzen.
Gibt es Erklärungen dafür, warum das Virus auf der einen Seite einen schweren Verlauf nimmt und andere Betroffene keine Symptome haben?
Die Risikofaktoren, die deklariert werden, passen nicht zu einer klassischen Lungenerkrankung. Man hat herausgefunden, dass Bluthochdruck und Übergewicht oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Blutgruppe offenbar eine Rolle spielen, wie die Krankheit verläuft. Noch wissen wir sehr wenig über das Virus. Wissenschaftler sind dabei, die Daten aufzuarbeiten. Ich bin mir sicher, dass wir daraus wichtige Informationen erhalten.
Angesichts der sinkenden Infektionszahlen sehnen sich die Menschen nach weiteren Lockerungen. Besteht die Gefahr, dass auch die Hallenser zu schnell zu viel wollen?
Die Menschen haben sehr lange eine Zeit mit Einschränkungen in allen Lebensbereichen hinter sich. Seit Mitte Mai sinkt die Zahl der Erkrankten, schwere Verläufe werden seltener. Das macht es schwierig, weil der Mensch dazu neigt, schnell den Ernst der Lage zu vergessen. Deshalb lautet mein dringender Appell, nicht leichtsinnig zu werden. Die Hygiene- und Abstandsregeln sind unbedingt weiterhin einzuhalten. Wir dürfen nicht lockerlassen, damit wir das, was wir in den vergangenen Monaten durch unsere Disziplin erreicht haben, nicht aufs Spiel setzen. Wir müssen achtsam bleiben.
Die Stadt hatte den Katastrophenfall ausgerufen und streng auf die Einhaltung der Regeln geachtet. Ist das überhaupt notwendig gewesen?
Ich stelle die Gegenfrage: Was wäre passiert, wenn wir es nicht gemacht hätten? Ob eine Maßnahme wirkt oder nicht, wissen wir erst nach 14 Tagen, weil die Inkubationszeit zwei Wochen beträgt. Am 12. März haben wir die Schulen geschlossen, weil wir bei unseren damaligen Ermittlungen gesehen hatten, dass immer wieder Kinder im Spiel sind. Sie waren selbst zwar nicht krank, wohnten aber bei Infizierten in den Haushalten. Wenn wir nicht reagiert hätten, wo wären wir dann mit den Zahlen gelandet? Es war richtig, auf diese Weise konsequent zu sein.
Was sagen Sie den Leuten, die von Abstandsregeln nichts mehr hören wollen?
Das Corona-Virus ist nicht besiegt. Ich möchte keine Angst schüren. Wenn wir aufmerksam sind, auf uns und unsere Mitmenschen achten und die Hygiene- und Abstandsregeln einhalten, ist das die beste Vorbeugung.
Wie lange werden wir noch mit Kontaktbeschränkungen und dem für viele lästigen Mundschutz leben müssen?
Wir brauchen einen Impfstoff gegen das Virus und ein Medikament gegen die Krankheit, am besten beides gleichzeitig. Die Pharmaindustrie arbeitet mit Hochdruck an einem Wirkstoff. Und obwohl die Firma BioNTech den Zuschlag erhalten hat, in die klinische Erprobung einzusteigen, sind wir längst nicht am Ziel. Es gibt sechs Stufen zur Zulassung eines Medikaments beziehungsweise Impfstoffs. BioNTech ist in Phase drei. Wir müssen also auch weiterhin mit Einschränkungen leben.
Zumindest haben die vergangenen Wochen etwas bewirkt. Wenn man heute eine Hand zum Gruß entgegengestreckt bekommt, ist man fast schon erschrocken. So etwas beobachtet man in der Öffentlichkeit immer wieder.
Das ist richtig. Ich finde es auch gut, wenn Menschen sagen, dass man Abstand halten muss, wenn andere zu nah kommen. Auch Supermärkte und Geschäfte haben sich gut auf die Situation eingestellt. Das Einkaufen ist allerdings zeitintensiver geworden. Mal eben schnell etwas erledigen, geht nicht. Wir brauchen ein anderes Zeitmanagement. Aber da sind wir auf einem guten Weg.
Wie beurteilen Sie die Meinung einiger Ihrer Kollegen, auch aus Halle, die die Corona-Regeln in Frage stellen oder sogar die Existenz des Virus anzweifeln?
In der Ärzteschaft gibt es immer wieder verschiedene Meinungen. Das beginnt schon bei der Debatte, ob Grippeschutzimpfungen nun sinnvoll sind oder nicht. Corona ist nicht harmlos. Weltweit sind viele Tote zu beklagen. Für die Grippe haben wir einen Impfstoff. Auch wenn sich das Grippevirus verändert, wissen wir einiges darüber. Bei Corona stehen wir am Anfang. Es ist nicht gut, wenn die Diskussionen unter Ärzten letztlich die Leute auf der Straße animieren, leichtsinnig zu werden. Wissenschaftlicher Diskurs ist aber nötig und wichtig.
Sie haben Ihren Mitarbeitern einiges abverlangen müssen. Wie man mit so einer Pandemie umgehen sollte, dafür gab es keine Blaupause. Würden Sie alles wieder so machen?
Zunächst einmal muss ich meine Mitarbeiter loben. Sie haben den Ernst der Lage erkannt und ohne zu zögern die Ärmel hochgekrempelt. Wir mussten uns umstrukturieren und waren sehr kreativ. Im Gesundheitsamt und im Veterinäramt war zeitweise fast die Hälfte der Mitarbeiter ausschließlich mit Corona beschäftigt. Großartig war, dass wir von Medizinstudenten unterstützt wurden. Wir müssen jetzt die Balance zwischen unserer eigentlichen Arbeit und dem Umgang mit dem Virus finden. Das wird eine Herausforderung bleiben, weil keiner weiß, ob es eine zweite Welle geben wird.
Ihre Mitarbeiter sind fast zu Detektiven geworden. Wie läuft so eine Kontaktnachverfolgung ab, wenn eine Person positiv getestet wurde? Müssen Sie Klingeln putzen?
Tatsächlich passiert die meiste Arbeit vom Büro aus. Bekommen wir eine Corona-Meldung, müssen wir die Telefonnummer des Infizierten herausfinden. Im Melderegister prüfen wir, wie viele Familienmitglieder noch in dem Haushalt leben. Der Erkrankte wird durch uns telefonisch befragt.
Und wir versuchen, seine Kontakte innerhalb der vergangenen sieben Tage zu ermitteln, um klären zu können, wie viele Personen in Quarantäne müssen. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Wir hatten Fälle, in denen Betroffene die Lage herunterspielen wollten, um nicht als Kontaktperson zu gelten. Hier brauchen meine Mitarbeiter ein gutes Gespür, Geduld und manchmal auch Nachdruck.
Der Bund will Massentests zulassen. Dann werden auch Abstriche und Analysen von Krankenkassen bezahlt, obwohl Personen symptomfrei sind. Finden Sie das richtig?
Im Prinzip schon, allerdings sieht die jetzige Regelung vor, dass sich die niedergelassenen Ärzte erst eine Genehmigung vom Gesundheitsamt holen müssen. Diese Regelung würde zu einer zusätzlichen Belastung für die Gesundheitsämter und der ärztlichen Kollegen in der Niederlassung und den Kliniken führen. Nächste Woche soll es dazu ein Gespräch im Sozialministerium in Magdeburg geben. Ich hoffe, dass dort ein Weg gefunden wird, die etwas umständliche Regelung zu modifizieren.
Noch eine persönliche Frage zum Schluss: Wie hat Corona ihr Leben verändert?
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Ich merke, wie wichtig mir Familie und Freunde sind. Ich freue mich, für sie alle wieder mehr Zeit zu haben. (mz)
