MZ-Serie „Lebenswege“ Wie eine junge Frau in den 1980er Jahren mit der Kamera gegen Abrissbagger in Halles Altstadt antrat
Ines Zimmermann hat ihre Kindheit in den 80er-Jahren verbracht – und den Wettlauf gegen die Abrissbagger in Halles Altstadt angetreten.
Halle/MZ - Die 80er-Jahre sind für Ines Zimmermann die Jahre ihrer Jugend. 1972 geboren, wächst die Hallenserin gemeinsam mit ihrem Bruder in Halle-Neustadt auf. Vier Personen in einer Drei-Raum-Wohnung; das Mädchen teilt sich das schmale Kinderzimmer mit dem Bruder. „Mein Vater hat unsere Wohnung spaßeshalber gerne mal Axt-Wohnung genannt“, erinnert sich die heute 50-Jährige, die damals nicht wusste, was er meinte: Dass eine Wohnung, zumal eine viel zu kleine wie ihre, Menschen auch erschlagen könne. „Das habe ich viel später erst verstanden.“
Die „Betonwüste“, wie Ines Zimmermann Neustadt – damals noch eigenständige Stadt neben Halle – heute noch nennt, habe in ihr aufgrund der gleichförmigen, eintönigen Bauweise aber auch die Liebe zur Altstadt Halles, zu den alten Häusern entfacht. „Wir waren öfter zu Ausflügen, wie wir als Kinder die Fahrten von Neustadt nach Halle immer genannt haben, unterwegs in Richtung hallesche Altstadt, später zog ich alleine oder mit meinem Cousin los“, erinnert sich die freischaffende Künstlerin, die 1989 ein Bauingenieurstudium beginnt und später ein Zusatzstudium der Denkmalpflege absolviert.
- Teil 1 - Das verspricht sich Halle vom neuen Zukunftszentrum
- Teil 2 - Wie ein Pfarrer aus Halle zum Top-Dissidenten in der DDR wurde
- Teil 3 - Wie ein Fahrradhändler aus Halle nach der Wende zum Öko-Vorreiter geworden ist
- Teil 4 - Warum Wolfgang Tischer 1965 als Wessi in die DDR übersiedelte
- Teil 5 - Wie eine Ärztin aus Halle mit 19 D-Mark den Neuanfang im Westen wagte
- Teil 6 - Warum ein stadtbekannter Politiker in Halle die Wende als großen Gewinn bezeichnet
- Teil 7 - Was eine Lehrerin in der DDR besser als heute fand
- Teil 8 - Wie eine Goldschmiedin aus Halle in der DDR mit nur 30 Gramm Gold pro Jahr arbeiten musste
- Teil 9 - Wie ein junger Soldat aus Halle dem Stasi-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ den Rücken kehrte
- Teil 10 - Wie ein Buchhändler aus Halle die Wende als Soldat in einer NVA-Kaserne erlebte
- Teil 11 - Wie ein Punk aus Halle in der DDR mit den Repressionen des Staates zu kämpfen hatte
- Teil 12 - Wie ein Denkmalschützer aus Halle mit der Abriss-Politik der DDR zu kämpfen hatte
- Teil 13 - Wie eine junge Frau in den 1980er Jahren mit der Kamera gegen Abrissbagger in Halles Altstadt antrat
Zum elften Geburtstag bekommt Ines Zimmermann eine Kamera geschenkt
Schon als Kind malt und zeichnet Ines Zimmermann gern – am liebsten „ihre“ Häuser, die sie auf ihren Streifzügen durch Halles Straßenzüge entdeckt und liebgewinnt. „Ich hatte jede Menge Lieblingshäuser“, sagt sie. „Alle hatten für mich ein Gesicht, etwas Einzigartiges, das es in meinen Augen zu bewahren galt.“ So hält sie diese Häuser – im Graseweg, in der Geiststraße, im Neumarktviertel – zunächst mit Zeichenstift und Pinsel fest, richtet sich mit einer Schulfreundin später sogar ein eigenes kleines Atelier in einem Abrisshaus ein, erst an der Spitze, später im baufälligen Keller des inzwischen längst sanierten Ackerbürgerhofs.
Zum elften Geburtstag bekommt Ines Zimmermann eine Kamera geschenkt, eine „Beirette“. Als dann ein Jahr später, 1984, die Abrisse in Halles Altstadt beginnen, kommt die Zwölfjährige nicht mehr hinterher mit dem Porträtieren ihrer Häuser. „Ich konnte einfach nicht so schnell zeichnen, wie der Abriss vonstattenging.“ Also habe sie die „Beirette“ geschnappt und ihre Lieblingshäuser fotografiert – immer im Wettlauf mit dem Abrissbagger. „Ich wollte schneller sein als der Bagger, wollte diese Häuser, die dem Untergang geweiht waren, in ihrem Charme und ihrer Würde bewahren“, so Ines Zimmermann, für die das kindheitsbestimmende Thema der alten Häuser zu einem großen Lebensthema werden sollte.
Besuch aus dem Westen wird 1987 zur Blamage für Ines Zimmermann
In einem Tagebucheintrag hält Ines Zimmermann einen denkwürdigen „Westbesuch“ fest, an den sich die Hallenserin auch heute noch lebhaft erinnert. Am 17. Mai 1987, einem Sonntag, sei ein Freund der Familie aus Nürnberg zu einem runden Geburtstag in der Familie nach Halle gereist. „Ich erhielt damals den Auftrag, mit Ulrich, unserem Besuch, eine Führung durch Halle zu unternehmen“, so Ines Zimmermann. Mit der Straßenbahn geht es also für die 15-Jährige gemeinsam mit Ulrich von Neustadt in Richtung Innenstadt.
Schon in der Mansfelder Straße habe der Gast aussteigen wollen, „und da begann auch schon die Blamage, denn die ganze Straße war voller Ruinen“. Auch an der Spitze habe es nicht besser ausgesehen, so dass sie auf einen rettenden Einfall gehofft habe, um dem Besucher aus dem Westen doch noch ein ansehnliches Bau-Ensemble präsentieren zu können: „Na klar, das Glaucha-Viertel!“, so die Blitz-Idee. Schließlich sei es damals als Vorzeige-Projekt in puncto DDR-Sanierung oft in der Zeitung erwähnt worden.
Ines Zimmermann erfüllt sich nach der Wende einen Jugendtraum
Doch beim Anblick der baufälligen Georgenkirche, an der man unweigerlich vorbei muss, dann der Schock! Welch geschundenes Gotteshaus habe sie dem Gast, ein strenggläubiger Christ, da vorgeführt. Und auch die versprochenen restaurierten Häuser im Glaucha-Viertel gibt es, zum Entsetzen des jungen Mädchens, nicht.
Große Ideale, Häuser zu retten, treiben Ines Zimmermann an. Sie arbeitet als Bauingenieurin, doch kommt ihr angesichts erlebter Billigsanierungen und auch weiteren Abrisses die Erkenntnis, dass „Rettung so nicht möglich“ ist. So erfüllt sich Ines Zimmermann nach der Wende einen Jugendtraum und studiert ab 2000 Malerei und Grafik an der halleschen Kunsthochschule Burg Giebichenstein. Fotos, sagt sie, mache sie heute kaum noch. Zeichnen und Malen seien inzwischen spannender, böten mehr Möglichkeiten, einem Haus die Würde wiederzugeben. Und das, so die Künstlerin, sei immer noch ihr wichtigstes Anliegen.