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MZ-Serie „Lebenswege“ Wie ein Pfarrer aus Halle zum Top-Dissidenten in der DDR wurde

Als junger Mann wollte Helmut Becker die DDR mit der Waffe schützen. Später kam der Theologe auch durch eine besondere Ausstellung mit dem Regime in Konflikt. Wie das sein Leben vor und nach der Wende beeinflusst hat.

Von Dirk Skrzypczak Aktualisiert: 15.11.2022, 14:24
Helmut Becker in der Umweltaustellung von 1983, die im Stadtmuseum zu sehen ist. Viele Themen sind noch immer brandaktuell.
Helmut Becker in der Umweltaustellung von 1983, die im Stadtmuseum zu sehen ist. Viele Themen sind noch immer brandaktuell. (Foto: Steffen Schellhorn)

Halle (Saale)/MZ - Helmut Becker steht im Stadtmuseum inmitten der Umweltausstellung „Die Erde ist zu retten“. Vor 39 Jahren hatte der Theologe mit seinem Studienfreund Friedhelm Kasparick die zehn Tafeln gestaltet – geschrieben per Hand und gezeichnet mit Kasparicks ungeheurem karikaturistischen Talent.

„Heute würde kein Kurator so ein Projekt in einer derart kurzen Zeit aus dem Boden stampfen“, sagt der 63-Jährige. Doch damals, 1983, als in der DDR die Wende noch weit weg war und kreative Köpfe mit kritischen Gedanken als Affront gegen das Regime galten, war die Ausstellung eine Sensation. Umweltverschmutzung, Abfallverwertung, Militär und Krieg als Zerstörer der Natur: „Wir waren die Vorläufer der Fridays-for-Future-Bewegung“, sagt Becker.

Armeezeit erster Wendepunkt

Der Familienvater, 1959 in einem Dorf bei Greifswald geboren, gehört zu jenen Menschen, denen man stundenlang zuhören kann, ohne sich zu langweilen. Becker hat Geschichte erlebt und geprägt. Nicht als Dissident der ersten Stunde, wie er erzählt. „Ich war gut DDR-erzogen und glaubte anfangs wirklich, dass der Sozialismus die bessere Gesellschaftsform ist.“ Er sei eher unfreiwillig zum Widerstand gekommen.

Für das sechste Kind aus einer Pfarrerfamilie ist diese Aussage durchaus bemerkenswert, galt die Kirche im Arbeiter- und Bauernstaat doch als Keimzelle des Widerstands – und das nicht erst 1989. Doch Helmut Becker dachte nach der Berufsausbildung mit Abitur nicht daran, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Er ließ sich für die Armee mustern, „obwohl mir mein Bruder Prügel angedroht hatte“. Doch der junge Mann wollte sich nicht selbst belügen, wie er sagt. „Wäre ich im Westen gewesen, dann hätte ich auch zur Waffe gegriffen, um zu verhindern, dass die Kommunisten einfallen“, sagt er.

Friedhelm Kasparick (links) und Helmut Becker konzipierten 1983 die Umweltausstellung in der Marktkirche. Durch die kritischen Themen kollidierten sie mit der Staatsmacht.
Friedhelm Kasparick (links) und Helmut Becker konzipierten 1983 die Umweltausstellung in der Marktkirche. Durch die kritischen Themen kollidierten sie mit der Staatsmacht.
Repro: Steffen Schellhorn

Eineinhalb Jahre war er bei der „Fahne“, lernte dort den Musiker Klaus Adolphi kennen. Und er begann, den Staat zu hinterfragen, weil junge Soldaten in seinem Umfeld das taten. Statt für Geologie an der Berguniversität in Freiberg entschloss er sich dann doch für das Theologiestudium in Halle. „Und mein Kompaniechef hat meinen Antrag unterschrieben. Das habe ich das erste Mal gelernt: Man kann in einer Welt groß werden, die mies ist. Und dennoch ist man von Menschen umgeben, auch von Parteigenossen der SED, die sympathisch waren.“

Verfall Halles hat Becker politisiert

Die Zeit in Halle soll Beckers Leben schließlich auf den Kopf stellen. Er lebt mit anderen Theologiestudenten im Konvikt in den Franckeschen Stiftungen. Von Professor Hermann Golz erfährt er etwas über das reiche geschichtliche Erbe der Stadt, das sich im Alltag nicht zeigt. „Das Dach unseres Gebäudes war kaputt, von oben kackten die Tauben rein. Ich dachte nur: die Scheißkommunisten.“ Der Verfall der eigentlich wunderschönen Stadt habe ihn in hohem Maße politisiert. Dabei habe er dem morbiden Charme etwas abgewinnen können. „Man hat die alte Pracht noch erahnen können. Halle war nicht glattgebügelt.“

Die Freundschaft zum zwei Jahre jüngeren Friedhelm Kasparick soll Beckers weiteren Lebensweg nachhaltig prägen. „Ich habe ihn bewundert. Er hat die Begabung, sich ans Klavier zu setzen und zu spielen, was er fühlt.“ Becker wächst an den Talenten seines Freundes. Als sie bei einem der obligatorischen Ernteeinsätze zu Beginn des Semesters makellose Äpfel in die Hände bekommen, durch Chemikalien „schön“ gespritzt, setzen sie sich an die Umweltausstellung mit dem Titel „Die Welt ist zu retten“. Als sie in der Marktkirche gezeigt wird, schrillen beim Rat des Bezirkes und der Staatssicherheit die Alarmglocken. Doch die Kirchengemeinde beschützt die mutigen Studenten – allerdings müssen auf staatlichem Druck einige Textpassagen überklebt werden.

Die Themen, die Becker und Kasparick in der Umweltaustellung aufgriffen, haben bis heute nichts an ihrer Gültigkeit verloren.
Die Themen, die Becker und Kasparick in der Umweltaustellung aufgriffen, haben bis heute nichts an ihrer Gültigkeit verloren.
Repro Schellhorn

Becker engagiert sich jetzt in der Jugendarbeit. Er hat Kontakt zu einem befreundeten Konvikt im Westen, setzt sich mit Gorbatschows Perestroika auseinander und fühlt sich zunehmend hilflos. „Ich dachte nicht, dass man die da oben stürzen kann.“ Fluchtgedanken wachsen und als er zum 70. Geburtstag der Tante in den Westen reisen darf, sitzt er gefühlt schon auf gepackten Koffern. „Letztlich wurde ich zum Widerstandskämpfer, als die DDR in sich zusammenfiel.“

Plötzlich Top-Dissident

Die Wendezeit beschreibt er als atemlose Hatz. Als er im September 1989 in Berlin den Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR mit unterzeichnet, steht er auf der Liste der Top-Dissidenten. Und als der Deutschlandfunk einen Tag später über den Aufruf berichtet und Beckers Name fällt, „wusste es der Mielke auch“. Nach der Rückkehr nach Halle wird er vor dem nt verhaftet und im Roten Ochsen verhört. „Und wäre die Mauer nicht gefallen, hätte ich sechs Jahre im Knast gesessen.“ Doch Becker ist plötzlich ganz oben. Er organisiert den ersten Besuch von Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) in Halle. Um ein Haar zieht er für die SPD in den Bundestag ein. Doch statt politischer Machtkämpfe wählt er die Arbeit als Pfarrer. Er baut die Villa Jülich als Bildungszentrum auf, gründet den ersten Tauschring seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit 1999 ist er Pfarrer der Petrusgemeinde. Für junge Leuten hat er die wichtige Botschaft, sich politisch zu engagieren.

Aus Halle will er nicht weg. „Die Schönheit der Stadt habe ich noch immer nicht ganz erschlossen, obwohl die Wende für Halle zehn Jahre zu spät kam“, sagt er. Sonst hätte man noch mehr alte Häuser „vor der Dachdeckermentalität von Honecker“ retten können. Und er hofft, dass 2023 – 40 Jahre nach der Premiere – die Umweltausstellung noch einmal in der Marktkirche zu sehen ist.