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MZ-Serie „Lebenswege“ Wie ein Buchhändler aus Halle die Wende als Soldat in einer NVA-Kaserne erlebte

Bücher spielen in der Biografie von Raimund Müller eine große Rolle. Der Buchhändler hat gemeinsam mit seiner Geschäftspartnerin einen Laden eröffnet. Doch eigentlich hätte er einen ganz anderen beruflichen Lebensweg eingeschlagen – wäre da nicht die Wende gewesen.

Von Katja Pausch 07.11.2022, 10:12
Raimund Müller ist vor allem Literaturfreunden bestens bekannt – für viele Hallenser  ist er dank des Ladens am Harz der Buchhändler des Vertrauens.
Raimund Müller ist vor allem Literaturfreunden bestens bekannt – für viele Hallenser ist er dank des Ladens am Harz der Buchhändler des Vertrauens. (Foto: Schellhorn)

Halle/MZ. - Welche Erinnerungen er an die Wende, an den heißen Herbst ’89 in Halle hat? Raimund Müller, für etliche Hallenser seit drei Jahrzehnten der Buchhändler ihres Vertrauens, muss da nicht lange überlegen. „Die Wende“, sagt Müller, 1969 in der Wittenberger Bosse-Klinik vom damals jungen Assistenzarzt und späteren Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer höchstselbst auf die Welt geholt, „die Wende hab ich als Soldat der NVA in der Kaserne erlebt“. Und wie für viele andere DDR-Bürger sei sie auch für ihn schicksalhaft gewesen, habe sie doch die Weichen für die eigene Biografie neu gestellt.

Vom Geburtsort Wittenberg hat es Raimund Müller als Sohn eines damals noch jungen Assistenz-Tierarztes „über zwei, drei Stationen Wanderweg“ 1975 dann zunächst nach Gollma bei Landsberg verschlagen, wo die Eltern ein Haus kauften. Dank seiner Schulzeit in der dortigen Polytechnischen Oberschule, erinnert sich Müller, sei ihm schon damals die erste Frau im Weltraum „mindestens ebenso wichtig wie Siegmund Jähn oder Juri Gagarin“ gewesen. „Die Schule trug den Namen Valentina Tereschkowa“, so Müller schmunzelnd.

Teils mit Schrecken, teils amüsiert denkt Müller an die zwei Jahre Internatsleben in den baufälligen Räumen im Lindenhof zurück

Vor allem aber die späteren Schuljahre der Abiturstufe an der heutigen Latina - damals Erweiterte Oberschule „August Hermann Francke“ - sind für Müller mit lebhaften Erinnerungen an die Internatszeit in einem der teilweise einsturzgefährdeten Gebäude der Franckeschen Stiftungen verbunden. Nicht nur, dass die Stiftungen in Müllers Leben auch deshalb heute noch eine große Rolle spielen, er sich auf das Lindenblütenfest freue und gern Besuch aus anderen Städten dort auf einen Halle-Spaziergang hinführe.

Vielmehr denke er teils mit Schrecken, teils amüsiert an die zwei Jahre Internatsleben in den baufälligen Räumen im Lindenhof zurück. Unter der Schülerschaft hätten damals flapsige Sprüche die Runde gemacht – zum Beispiel jener: „Der Putz fällt ab, die Ziegel runter – und manchmal liegt ein Schüler drunter“. Es sei quasi das „Morgengebet“ auf dem Weg vom Internat zur Schule gewesen. Die Zimmer seien toll gewesen, draußen hingegen alles grau und marode.

Grundwehrdienst statt Biologie-Studienplatz

Und unter den Dächern habe meterhoch der Taubendreck gelegen. Den habe mancher Lehrer als Dünger geschätzt, und so wurden die Schüler des Öfteren zum Zusammenkehren des Taubenkots unter Schutzkleidung beauftragt – „undenkbar sowas heute“, ebenso wie das regelmäßige Heizen der großen Kachelöfen in den Internatszimmern.

Nach dem Abitur 1988 stand für Müller die Studienwahl an. „Eigentlich wollte ich Biologie studieren, aber mein Abi war nicht so toll“, so Müller, der für sein Traumstudium allerdings nicht die damals als „wunschstudienplatzfördernden“ geltenden drei Jahre Armeezeit ableisten, andererseits aber auch nicht verweigern wollte. Auch deshalb, weil seine Eltern damals schon ab und zu in den Westen reisen konnten. „Das wäre dann sicher nicht mehr möglich gewesen“, so Müller, der sich zum Grundwehrdienst entschlossen hatte – dafür aber dann eben keinen Bio-Studienplatz bekam. Stattdessen drohte man dem damals 18-Jährigen an, ihn erst mit 26 zum Wehrdienst zu ziehen – bis dahin könne er in Buna im Karbid versauern.

Zukunft als LPG-Vorsitzender?

„Also hab ich mich pro forma für einen Studienplatz Tierproduktion in Rostock beworben und dafür in einer LPG in Landsberg ein Praktikum gemacht“, so Müller, dem damit von einem Freund der Familie eine Zukunft als LPG-Vorsitzenden in Aussicht gestellt wurde. „Man sah mich dort schon als Nachfolger – und ich mich auch, wenn sich nicht 1989/90 alles geändert hätte, während ich noch bei der Armee war“, so Müller, der 1990 nach 15 Monaten Wehrdienst drei Monate zu früh nach Hause geschickt wurde und in Halle nur noch die Nachwende-Wehen live mitbekommen hatte.

Gemeinsam mit Antje Jacobi (l.) hat Raimund Müller Anfang der 90er eine Buchhandlung aufgebaut - in einem ehemaligen Telekom-Laden am Harz.
Gemeinsam mit Antje Jacobi (l.) hat Raimund Müller Anfang der 90er eine Buchhandlung aufgebaut - in einem ehemaligen Telekom-Laden am Harz.
(Foto: Müller)

„Aber natürlich waren wir bis dahin als Soldaten in der Kaserne über Post und Besuche informiert, was in Halle passierte“, so Müller, der als Soldat auf Ausgang in der Hagenower Kirche ein Konzert des halleschen Liedermachers Detlef Hörold erlebte - und damit Kontakt zum Neuen Forum bekam.

Es habe im Oktober 1989 durchaus im Raum gestanden, im Ernstfall als Soldat die Waffe gegen die eigenen Landsleute zu richten

Später hat Müller Schriften unter den Soldaten verteilt bis hin zur Gründung eines Soldatenrates mit der Forderung nach einer Demokratiereform der NVA. Was durchaus hätte problematisch bis gefährlich werden können – „wenn die Wende anders verlaufen wäre“. Es habe im Oktober 1989 durchaus im Raum gestanden, im Ernstfall als Soldat die Waffe gegen die eigenen Landsleute zu richten.

Aus der Armee entlassen, stand Müller „erstmal da“, wie er sagt. Aufgrund des Wegzugs vieler Hallenser in den Westen habe er eine Wohnung in der Großen Gosenstraße beziehen können – „und erstmal im Antiquariat ein Buch gekauft“, um den Lesehunger zu stillen. Auf der Suche nach einem Job gelangte Müller in den Buchhandel, arbeitete im „Guten Buch“, lernte Buchhändler – und sollte später in einer ehemaligen Telekom-Filiale am Harz mit seiner langjährigen Geschäftspartnerin Antje Jacobi eine eigene Buchhandlung eröffnen, die bis heute ein Magnet für Bücherfreunde ist.