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War Struwwelpeter ein Hallenser?

Von Detlef Färber 03.06.2008, 17:03

Halle/MZ. - "Sieh einmal, hier steht er. Pfui, der Struwwelpeter!" Eins der berühmtesten und erfolgreichsten Bücher aller Zeiten - gedichtet vor 164 Jahren - beginnt mit diesem Vers. Aber bis heute ist eine Frage unbeantwortet: Wo war "hier"? Die bislang kaum beachtete Tatsache, dass Struwwelpeters Schöpfer Heinrich Hoffmann in Halle Medizin studiert und hier auch promoviert hat, könnte nun Aufschluss bringen. Die Struwwelpeter-Revue, die jüngst auf der Kulturinsel Premiere hatte, gab den Anlass für die Recherche.

Mindestens 15 Monate - also länger als Eichendorff - verbrachte Hoffmann, dessen 200. Geburtstag nächstes Jahr ansteht, in der Saalestadt. Gewohnt hat er von 1833 bis 1834 in der Großen Ulrichstraße. Ob Nummer 35 oder 36, darüber sind Stadtarchiv und Universitätsarchiv uneins. Es war zehn Jahre bevor der dichtende Arzt in Frankfurt seinem Sohn zu Weihnachten besagtes Bilderbuch schenkte.

Wie es entstanden ist und welche Geheimnisse sich hinter seinen Figuren verbergen, darüber gibt es inzwischen einige Aufschlüsse. Die erste Spur führt zum "Zappelphilipp". Heinrich Hoffmann selbst habe als Kind und sogar noch als Erwachsener unter extremer Hyperaktivität (ADHS-Syndrom) gelitten, behaupten die Autoren Johanna und Klaus-Hennig Krause nach intensivem Studium von biografischem Quellenmaterial. Schrieb er das Gedicht also auch zur Eigentherapie? - Ähnlich stellt sich die Frage bei einer anderen Story aus dem Struwwelpeter. "Der Friedrich, der Friedrich, das war ein böser Wüterich" heißt es über den wildesten von Hoffmanns Helden. Doch jetzt kam heraus, dass auch der Dichter selbst in seiner halleschen Zeit ein ziemliches Früchtchen gewesen sein muss. Denn noch heute steht eine Disziplinarstrafe gegen ihn bei der halleschen Universität zu Buche. Im Sommersemester 1833 gab es gegen den Kandidaten der Medizin eine "Verwarnung wegen des Verdachts der Beleidigung eines Nachtwächters". Nahezu beleidigend, mindestens aber sehr abschätzig ("Er verkehrte mit seinen Schülern absolut rücksichtslos") äußerte sich Hoffmann auch über seinen Professor, den Pathologen Peter Krukenberg, nach dem in Halle eine Straße benannt ist.

Sollte Heinrich Hoffmann also vielleicht auch selbst der Struwwelpeter gewesen sein? - Dass er mit diesem Gammler-Urtyp ein bisschen sympathisierte, zeigt vielleicht die Tatsache, dass Hoffmann sich nach der 1848er Revolution rühmte, der erste Frankfurter Arzt mit Vollbart gewesen zu sein. Doch einem kleinen struwweligen und zerzausten Urbild jener Figur, die Hoffmann später berühmt machen sollte, kann er am ehesten in Halle begegnet sein. Von seiner Hyperaktivität getrieben, soll der Student nämlich endlose Spaziergänge durch die umliegenden Wälder, Felder und Halles Vororte unternommen haben. In Glaucha, das trotz des Wirkens der Franckeschen Stiftungen auch im 19. Jahrhundert noch ein sozialer Brennpunkt war, könnte er ihm alle Nasen lang über den Weg gelaufen sein.

Dass so ein Ur-Struppi im Herzen des Dichters erst 1844 zum Struwwelpeter avancierte, ist alles anders als verwunderlich. Die Kinderbuchautorin und einstige hallesche Stadtschreiberin Christina Seidel kennt solche Latenzzeiten für die besten Ideen von Kollegen-Berichten wie aus eigener Erfahrung: "Entweder es gelingt sofort", sagt sie, "oder es dauert mindestens zehn Jahre". Genau solange hat der Struwwelpeter nach Hoffmanns Zeit in Halle auch gebraucht.