«Übergabe oder Vernichtung»
Halle/MZ. - Die amerikanischen Truppen standen am 14. April 1945 vor den Toren Halles, bei Brachwitz setzten sie über die Saale. Am 15. April, ein Sonntag, drangen sie in heftigen Straßenkämpfen bis zum Zoo vor. Fünf Shermanpanzer wurden dabei abgeschossen. Der Kommandeur der 104. US-Division, General Terry Allen, war wütend. Er hatte in der Trothaer Straße einen engen Freund durch einen Heckenschützen verloren. So kurz vor Kriegsende. Und Allen befand sich in einer fatalen Lage. Das US-Heeresoberkommando drängte darauf, Halle, den wichtigen Verkehrsknotenpunkt und Industriestandort, rasch einzunehmen.
Andererseits musste Allen verlustreiche Häuserkämpfe vermeiden, weil er sein Lazarett in dem von seinen Truppen befreiten KZ-Lager Dora bei Nordhausen zurückgelassen hatte, um den ausgemergelten Häftlingen erste sanitäre Hilfe zu leisten. Der General ließ Flugblätter abwerfen, in denen er an die Hallenser appellierte: "Übergabe oder Vernichtung! Noch stehen Eure Häuser...Dies ist die Stunde der Tat... In wenigen Stunden wird es zu spät sein."
Um der Bevölkerung den Ernst der Situation bewusst zu machen, beschoss US-Artillerie am 16. April nachmittags die Stadt, wobei der "Rote Turm" getroffen wurde und brennend zu Boden stürzte. Voller Angst drängten die Menschen ins Stadtzentrum. Es lief das Gerücht, Gauleiter Joachim Albrecht Eggeling und der NSDAP-Kreisleiter Carl Julius Dohmgoergen hätten ihrem Leben ein Ende gesetzt.
Treffen mit Bormann
Eggeling hatte den Krieg verloren gegeben. Wie aus Tagebuchaufzeichnungen von Josef Goebbels hervorgeht, hatte es "Eggeling an geeigneten Maßnahmen" fehlen lassen, um "einem großen Luftangriff auf Halle und Leuna" zu begegnen, so dass eine "Katastrophe unvermeidlich" wäre. In seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar war er dem Reichsleiter Martin Bormann direkt unterstellt. Eggeling fuhr daher am 12. April nach Berlin, um die friedliche Übergabe der Stadt zu erreichen. Bormann erinnerte an den Führerbefehl, jede Stadt wie eine Festung zu verteidigen und drohte Eggeling mit dem Strick.
Hauptmann Weinreich, der Verbindungsoffizier der Schupo zum Gauleiter, teilte als Augenzeuge später mit, dass auch Adolf Hitler noch zu der Besprechung mit Eggeling erschienen war und erklärte, dass "keine neuen Waffen mehr zum Einsatz" gelangen würden. Eggeling sah keinen Ausweg mehr und wählte den Giftbecher, als die Amerikaner einmarschierten.
Kreisleiter Dohmgoergen, der bis zuletzt auf die "Wunderwaffe" gewartet hatte, jagte sich zusätzlich noch eine Kugel in den Kopf. Die Leichen der beiden wurden von der städtischen Müllabfuhr nach den Kampfhandlungen zum Gertraudenfriedhof gebracht und verbrannt. Mit dem Freitod entzog sich Eggeling seiner Verantwortung, aber er hatte wenigstens nicht im Sinne Hitlers in die Kriegshandlungen eingegriffen .
Druck auf Radtke
Der Oberbürgermeister von Halle, Prof. Dr. Dr. Johannes Weidemann, dem es zugekommen wäre, die Interessen der Stadt direkt beim Kampfkommandanten Generalleutnant Anton Radtke zu vertreten, lehnte das unter Hinweis auf seine hohe SS-Funktion ab - er war SS-Standartenführer - und überließ diese heikle Aufgabe Universitätsprofessor Dr. Theodor Lieser, Polizeipräsident Rheins, Schupo-Kommandeur Polizeioberst Max Baltersee sowie mehreren Lazarettärzten. Diese stellten dem 57-jährigen Radtke seit dem 11. April die Aussichtslosigkeit der militärischen Situation und die verzweifelte Lage der mit Ausgebombten und etwa 25 000 Verwundeten voll gestopften Viertelmillionenstadt dar.
Weiße Fahnen gehisst
Radtke verschloss sich den Argumenten nicht, verbat sich jedoch "jede Beeinflussung unter Androhung schwerster Strafen". Am 14. April hatte er neun Brücken sprengen lassen. Ein Akt, der weniger den amerikanischen Vormarsch behinderte, als vielmehr der Bevölkerung große Erschwernisse auferlegte. Lieser setzte auf deren Mobilisierung. Er hatte bereits 1942 begonnen, in seinem Institut für Technische Chemie am Domplatz eine "Antinazistische Bewegung" ins Leben zu rufen, der etwa zwei Dutzend Mitglieder angehörten, sie waren teils bewaffnet. Die Pistolen hatten sie offiziell zum Schutz des Instituts vor Spionen erhalten.
In der Nacht vom 13. zum 14. April stellte die Lieser-Gruppe 2 000 und vom 15. zum 16. April 10 000 Flugblätter her und verteilte sie mit Hilfe von gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandsgruppen. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, weiße Fahnen zu hissen, um die kampflose Übergabe der Stadt zu erzwingen. Fortsetzung morgen