Tragödie vor 20 Jahren Tragödie vor 20 Jahren: Fallschirmspringer stürzt in Zuschauermenge vorm HFC-Stadion
Halle (Saale) - Im Wohnzimmer von Monika Melzer steht ein schönes altes Schränkchen mit einer Schublade. Darin liegen Dinge von Holger, ihrem Sohn: Seine Uhr und sein Portemonnaie. Und noch etwas liegt in der Schublade: Holgers Todesanzeige und die Schleifen der Kränze, die damals im Jahr 1997 auf sein Grab gelegt wurden.
Wenige Tage, nachdem der 28-jährige Soziologiestudent vor dem Kurt-Wabbel-Stadion an der Kantstraße in den Tod gerissen worden war. Ein Fallschirmspringer, der in einer großen Showeinlage den Fußball aus der Luft ins Stadion bringen sollte, war in eine Menschenmenge vor der Arena gestürzt. Vier Menschen, darunter Holger, starben.
Tödlicher Sprung am 26. September 1997 in Halle
Wenn Monika Melzer die Schublade öffnet, dann tritt der 26. September 1997 wieder in ihren Kopf. Er beginnt mit einer guten Idee: Holger ist ihr Sohn aus erster Ehe. Es gibt noch einen zweiten Sohn, Andreas, aus zweiter Ehe. „Zwischen den beiden lagen zehn Jahre Altersunterschied. Sie wollten sich näherkommen“, erinnert sich Melzer.
Das Fußballspiel, über das die ganze Stadt spricht, soll beide zusammenbringen: Das Derby HFC gegen den VfL. „Holger war eigentlich gar kein Fußballfan. Er war ein Familienmensch. Aber Fußball, das ist doch etwas Schönes“
Lange Schlangen vor den Kassenhäuschen des HFC
Die beiden Halbbrüder machen sich mit einem befreundeten Pärchen auf dem Weg zum Stadion, wo schon lange Schlangen vor den Kassenhäuschen warten. „Der HFC war diesem Ansturm organisatorisch gar nicht gewachsen.“ Um schneller ranzukommen, wechseln die vier sogar noch die Schlange - ein tödlicher Fehler.
Fast zur gleichen Zeit springen drei Fallschirmspringer mehrere Hundert Meter über dem Stadion aus einer AN-2-Maschine. Darunter ein sehr erfahrener Springer, der am Flugplatz in Oppin sogar als Ausbilder arbeitet. Ein Profi. Seine beiden Kollegen schweben wie geplant mit Werbefahnen ins Stadion, doch der Schirm des dritten Springers öffnet sich nicht. „Die Werbefahne hat sich verklemmt, so dass der Schirm nicht aufging.“ Als der Mann seinen Reservefallschirm öffnen will, ist es dafür schon zu spät. Zeugen sprechen noch mehrere Hundert Meter entfernt von einem ohrenbetäubenden Knall.
Gedenkveranstaltung am Stadion
Monika Melzer packt die Todesanzeige beiseite und blickt hoch. Ob sie ein glückliches Leben führt? Sie denkt lange nach. „Das ist schwer. Ich würde sagen ein zufriedenes.“ Die Familie fehle ihr schon. „Ich habe immer gedacht, wenn du alt bist, hast du ja zwei Söhne, da hast du Familie und bist nie alleine. Aber das ist nicht so.“
Am 26. September wird der HFC am Stadion um 17 Uhr eine Gedenkveranstaltung abhalten. Monika Melzer wird auch kommen, vielleicht auch Holgers Vater. Eigentlich geht sie, um sich an ihren Sohn zu erinnern, lieber an sein Grab als zur Gedenkplatte an der Stadionwand. Doch manchmal zieht es sie auch dorthin. Am Vormittag hat sie hier eine Sonnenblume abgelegt. „Sonnenblumen und Nelken, die liebte der Holger.“
Metallplatte erinnert an das Unglück in Halle
Dort, wo heute die Metallplatte an das Unglück erinnert, spielen sich vor 20 Jahren dramatische Szenen ab. Andreas, der wegen des Knalls zunächst weggelaufen war, findet seine Freunde erst nicht. Als er sie sieht, suchen sie gemeinsam nach Holger - vergeblich. Sie beschließen zu seiner Freundin in die WG zu fahren, in der Hoffnung, er würde dorthinkommen. Doch Holger ist tot.
Als zwei Polizisten die aufgewühlte Gruppe informieren, machen die vier sich auf zu Monika Melzer, die zu diesem Zeitpunkt in Markranstädt wohnt und Böses ahnt. Im Radio hat sie schon vom Zwischenfall mit drei toten Zuschauern gehört, doch sie weiß nicht, wen es getroffen hat. Handys haben weder Holger noch Andreas und in der Wohnung geht niemand ans Telefon. „Ich hatte ein ungutes Gefühl.“
Mutter hat die Tragödie noch nicht verarbeitet
Als gegen Mitternacht ein weißes Auto in Markranstädt vorfährt und Andreas, Holgers Freundin und das Pärchen aussteigen, weiß sie: Es ist etwas passiert. „Andreas hatte blutverschmierte Turnschuhe und war blass. Holgers Freundin nahm mich in den Arm und sagte, Holger ist tot.“
Den ganzen Abend sprechen sie über alles Mögliche, nur nicht über den Unfall. Es geht einfach nicht und das wird auch noch Jahre so bleiben. Für Andreas bleibt dieser Abend nicht folgenlos. Er bekommt Schwierigkeiten in der Schule und hat Angst, unter Menschen zu sein. Auch Monika Melzer ist zunächst völlig unfähig, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Für die Familie ist es eine Zeit, wie im freien Fall.
Bei Andreas ist es die Frau, die er kennenlernt und ihn schließlich wieder hochzieht. Bei Monika Melzer? Vielleicht eine starke Persönlichkeit. Sie beginnt nach sechs Monaten wieder mit ihrer Arbeit und hält bis zur Rente durch. Doch ganz verarbeitet hat sie die Tragödie, die sich vor genau 20 Jahren abspielte, noch immer nicht. Holgers Schublade in dem schönen kleinen Schränkchen öffnet sie rund viermal pro Woche. (mz)