Traditionsunternehmen in Halle Traditionsunternehmen in Halle: Start mit Chirurgiemesser

HALLE (Saale) - Heute würde man es ein tolles Beispiel für Existenzgründung oder neudeutsch Start-Up-Unternehmen nennen: Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts blühte unter Johann Christian Reil und dessen Schwiegersohn Peter Krukenberg die Medizin in Halle auf - was sich der Handwerker Friedrich Hellwig 1831 zunutze machte. Er gründete im Stadtzentrum ein Geschäft als chirurgischer Instrumentenmacher und Bandagist. Im Hinterhof gab es eine Schmiede, in der die Instrumente über dem heißen Feuer ganz individuell nach dem Wunsch der Ärzte gefertigt wurden.
Sechste Generation
Ur-Ur-Ur-Enkelin Melanie Hellwig ist heute Chefin des Betriebs, der zwar keine Instrumente mehr herstellt, wohl aber Prothesen und andere Hilfsmittel in Maßanfertigung - und das jetzt schon in der sechsten Generation. „Die Aufgabe der Bandagisten war es, die Prothesen mit Leder und Polstern zu versehen“, erklärt die 38-jährige Firmeninhaberin den alten Begriff. Heute stellt sie - zusammen mit Ehemann Silvio Semadeni und weiteren Angestellten Prothesen und Orthesen komplett her, ebenso auch Bandagen wie etwa Bruchbänder oder andere Hilfsmittel.
Wegen Kondomen vor Gericht
So ehrenwert der Beruf ist - es gab schon einmal gründlich Zoff. 1907 stand Paul Hellwig, der Urgroßvater, vor Gericht. Das Vergehen: Er hatte eine Dose mit Kondomen in das Schaufenster gestellt. Und diese erst nach „mehrmaliger Aufforderung seitens der Polizeibehörde“ wieder aus dem Schaufenster entfernt, wie es in dem Gerichtsurteil heißt, das freilich als Kuriosität im Familienarchiv erhalten ist. Mit dem heiklen Fall haben sich der damalige Direktor des Landgerichts und vier weitere Richter befasst; die Sache war für die Justiz keine Bagatelle. Denn es ging hier um die Frage, ob hier „Gegenstände, die zum unzüchtigen Gebrauch bestimmt sind“, an öffentlich zugänglichen Orten angepreist werden. Höchststrafe anno 1907 darauf war ein Jahr Gefängnis plus der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.
Paul Hellwig war sich keiner Schuld bewusst, denn Kondome würden ja auch von Ärzten verschrieben, wenn eine Entbindung für die Frau gefährlich sei, so sagte er damals aus. Letztlich kam er mit einer Geldstrafe von 20 Mark davon. Strafmildernd rechneten ihm die Richter an, dass die Dose verschlossen war.
Sichere Branche
Doch die Geschichte war für Paul Hellwig keineswegs problematisch. Vielmehr erweiterte er das Geschäft, das bis dato in der Märkerstraße war und baute 1910 ein neues Firmengebäude in der Barfüßerstraße, wo es heute noch zu finden ist. 1974 übernahm es Volkmar Hellwig von seinem Vater Fritz. „Ich habe Glück gehabt, dass ich in einer Branche war, wo das Überleben gesichert war“, sagt der 68-Jährige. Denn zu DDR-Zeiten habe es nur einen staatlichen Orthopädietechnik-Betrieb in jedem Bezirk gegeben, die Mehrzahl solcher Betriebe sei privat gewesen. Materialmangel habe er nur in einigen Bereichen beklagen müssen. Aber - die Rezepte für Einlagen seien ab Mitte des Monats nicht mehr angenommen worden, weil die zehn Mitarbeiter schlichtweg nicht mehr als 120 Einlagen pro Monat herstellen konnten. „Wir konnten die Kunden aber einigermaßen versorgen“, sagt Hellwig.
Preisdruck durch die Krankenkassen
Heute ist das nicht mehr die Frage, alles ist lieferbar. Vieles davon auch wie in anderen Sanitätshäusern fertig aus der Fabrik, wie etwa die Bandagen, Rollstühle oder Blutdruckmessgeräte. „Aber man kann nur überleben, wenn man daneben auch handwerklich arbeitet“, berichtet Hellwig vom Preisdruck durch die Krankenkassen.
Der Geschäftsmann setzte nach der Wende auf Expansion und baute in Bitterfeld ein Geschäft aus, unterhält zwei weitere Filialen und kaufte er sich mit seiner Frau in einen weiteren Sanitätshandel ein. Dort ist heute sein Sohn Marius technischer Leiter. Stolz, das ist der immer noch im Hintergrund aktive 68-Jährige aber auf eines: „Wir sind bundesweit in unserer Branche der älteste Betrieb.“ (mz)



