Thomas Müller-Bahlke Thomas Müller-Bahlke: Sympathischer Menschenschlag
Halle (Saale)/MZ. - Natürlich hätte sich Thomas Müller-Bahlke am liebsten die Franckeschen Stiftungen ausgesucht für ein Interview über Halle und die Hallenser. Aber das wäre zu einfach gewesen. Im Gespräch spielte der faszinierende Gebäudekomplex freilich doch eine gewichtige Rolle. Als Gesprächsort wählte der Direktor der Stiftungen die Laurentiuskirche.
Was verbindet Sie mit der Laurentiuskirche?
Müller-Bahlke: Ganz viel. Zunächst einmal ist sie unsere Kirchengemeinde. Hier wurden unsere beiden Kinder konfirmiert und ich kann sagen: Das ist wirklich ein Stück Heimat geworden. Wir wohnen hier im Viertel und ich komme einfach oft und gerne her. Durch den dazugehörigen Friedhof ist es natürlich auch ein sehr kontemplativer Ort. Und die Kirche selbst hat einen besonders schlichten, zurückhaltenden Charakter, was mich ebenfalls sehr anspricht.
Wie verlief Ihr Weg nach Halle?
Müller-Bahlke: Mein Weg nach Halle ist quasi ein doppelter. Zum einen übers Studium: Mein Dissertationsthema war die Entstehung der Lutherischen Kirche Nordamerikas, die eng verbunden ist mit dem Kirchengründer Mühlenberg, der in Franckes Schulen unterrichtete. Ich kam mitten im Herbst 1989 nach Halle, um die Mühlenberg-Archivalien einzusehen. Ich weiß noch, der Archivar empfing mich damals mit Bauhelm, und die Stiftungen waren eine einzige Ruine. Mein zweiter Zugang ist ein familiärer: Mein Großvater war der letzte Waisenhauspfarrer, mein Vater ist in den Stiftungen aufgewachsen, bevor er nach dem Krieg in Marburg studierte. Zu DDR-Zeiten kamen wir regelmäßig nach Halle, um meine Großmutter zu besuchen. Mein Großvater starb leider schon vor meiner Geburt. Aber ich hatte mein Büro jahrelang in seinem ehemaligen Amtszimmer.
Sie waren zur rechten Zeit am rechten Ort.
Müller-Bahlke: Die Wende wurde auch für mich zur Chance meines Lebens. Das war großartig, dass ich als junger Historiker hier mitarbeiten durfte. Eine Weile bin ich dann noch zwischen Halle und Göttingen gependelt, aber als die Stiftungen 1992 eine eigene Körperschaft wurden, wurde ich einer der ersten wissenschaftlichen Mitarbeiter. Ich habe den Wechsel keine Minute bereut. Eine unglaublich turbulente, spannende Zeit. Und man konnte ganz viel gestalten.
Wie haben Sie Halle zu jener Zeit wahrgenommen?
Müller-Bahlke: Ehrlich gesagt, in den ersten Jahren bin ich kaum über die Grenzen der Stiftungen hinausgekommen. Meine Frau und ich wohnten damals auch auf dem Stiftungsgelände. Die Entwicklung der Stadt habe ich da nicht sehr intensiv verfolgt.
Wann änderte sich das?
Müller-Bahlke: Nach dem ersten Wiederaufbau-Schub. Ich hatte den damaligen Direktor, Paul Raabe, gebeten, meine Stelle zu reduzieren, weil ich wieder stärker wissenschaftlich arbeiten wollte. Wir sind dann ins Mühlwegviertel gezogen und ich bin sozusagen tiefer in die Stadt eingetaucht. Beispielsweise habe ich den Verein für hallische Stadtgeschichte mitgegründet und zehn Jahre geleitet.
Sagt das auch etwas aus über die Stadt, dass es so einen Stadtgeschichtsverein vorher nicht gab? Genauso, wie es bis heute keine richtige Ausstellung zur Stadtgeschichte gibt.
Müller-Bahlke: Das zeigt, dass das Geschichtsbewusstsein nicht sonderlich gepflegt wurde. Halle war eben über die Jahrzehnte seit der Industrialisierung nicht geprägt vom Bürgertum. Auch die Verwahrlosung der Altstadt war Ausdruck einer bewussten Negierung der traditionsreichen Geschichte.
Sie sind viel unterwegs und empfangen viele Gäste in Halle. Wie reagieren Auswärtige auf Halle?
Müller-Bahlke: Menschen aus der alten Bundesrepublik sind oft immer noch zum Teil erschreckend uninformiert. Aber wer dann herkommt, der geht mit offenem Mund durch die Stadt. Und ausländische Gäste sind sowieso immer begeistert. Ich finde übrigens, dass die Verantwortlichen nach der Wende bestimmte Weichen richtig gestellt haben. Man hat rechtzeitig erkannt, dass Halles Zukunft nicht in erster Linie in der Industrie liegt, sondern in Bereichen wie Wissenschaft und Bildung. Trotz aller Probleme und Nöte, die teils ja auch von außen aufgebürdet wurden, hat die Stadt diese Stärken hochgehalten und gepflegt.
Aber wird es auch wahrgenommen?
Müller-Bahlke: Zu wenig. Es dauert einfach lange, um Vorurteile abzubauen. Aber ich finde, es hat sich schon viel getan - auch, was das Selbstbewusstsein der Hallenser selbst angeht. Und was die Grundstimmung angeht, die Freunde von uns erst neulich wieder als depressiv bezeichnet hatten: Man kann doch nicht 24 Stunden himmelhochjauchzend sein. Ich finde es authentischer, verschiedene Stimmungen zu erleben. Nebenbei: Ich habe in verschiedenen Gegenden Deutschlands gewohnt und fast überall hieß es: Die Einheimischen, die sind ganz schwierig. Ich kann sagen: Gegen manchen Eingeborenen der Lüneburger Heide ist das hier ein lustiges Völkchen. Also, insgesamt finde ich den Menschenschlag sehr sympathisch.
Seit der Wende sind 100 Millionen Euro in die Franckeschen Stiftungen geflossen - eine der größten Aufbauleistungen in den neuen Ländern?
Müller-Bahlke: Mit Sicherheit. Zumal wir einen ganz großen Startnachteil hatten: Es gab die Stiftungen ja gar nicht mehr am Ende der DDR!
Wird diese Aufbauleistung in Halle selbst gewürdigt?
Müller-Bahlke: Ja, aber noch längst nicht genug. Wenn man bedenkt, dass wir auf der Vorschlagsliste für das Weltkulturerbe stehen, würde ich mir auch von den Hallensern mehr Fürsprache, Identifikation und, ja, Bürgerstolz wünschen. Mein Eindruck ist, dass die Stiftungen von vielen, wenn nicht als Fremdkörper, so doch als Stadt in der Stadt wahrgenommen werden.
Was sie ja auch sind.
Müller-Bahlke: Ja, aber wir sind doch nach Kräften bemüht, uns in die Stadt einzubringen. Denken Sie nur an die kulturellen Themenjahre.
Was würden Sie sich denn konkret wünschen?
Müller-Bahlke: Nehmen wir das Stadtmarketing. Die Stiftungen werden einfach nicht als eines der ganz großen Potentiale begriffen. Es heißt dann immer, sie seien schlecht zu vermarkten. Klar, es ist schwierig, die Stiftungen auf ein Stichwort zu bringen. Beim Vorgeschichtsmuseum etwa ist das einfacher. Den Blick auf die Stiftungen spürt man auch in der Diskussion um die Hochstraße.
Den Abriss, den Sie fordern, können sich wahrscheinlich die wenigsten Hallenser vorstellen.
Müller-Bahlke: Natürlich muss man sich Gedanken über vernünftige Alternativen machen. Der Abriss soll ja auch nicht morgen oder nächstes Jahr kommen. Aber es müsste doch eigentlich Konsens darüber herrschen, die Stiftungen nach allen Kräften zu fördern. Die Meinung, "bloß wegen der Stiftungen" könne man die Hochstraße nicht abreißen, zeigt die geringe Wertschätzung. Man muss sich vielleicht immer mal vergegenwärtigen: Die Hochstraße verläuft auf ehemaligem Stiftungsgelände.
Kennen Sie die Stiftungen noch ohne Hochstraße?
Müller-Bahlke: Oh ja! Meine Großmutter wohnte bis Mitte der 70er Jahre in der Waisenhausapotheke. Wir besuchten sie regelmäßig. Eines Tages kamen wir wieder, die Waisenhausmauer war weg und wir mussten unter diesen Betonstelzen durchlaufen. Ich weiß, das fand ich schrecklich.