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Synästhesie  Synästhesie : Hallenserin nimmt Welt durch medizinisches Phänomen anders wahr

Von Julia Rau 18.02.2018, 11:00
Selina malt die Personen. Statt des Aussehens bringt sie die Farben und Formen auf Leinwand, die sie sieht und empfindet. Hier: ihr Freund
Selina malt die Personen. Statt des Aussehens bringt sie die Farben und Formen auf Leinwand, die sie sieht und empfindet. Hier: ihr Freund privat

Halle (Saale) - Technomusik fühlt sich schuppig an, russisch ist ein dunkelgrauer Berg und der Herbst fühlt sich an wie eine bauchige Vase. Für Selina aus Halle-Neustadt war das immer klar. Bis sie eines Tages ihren Freund fragte, ob er auch Formen und Farben empfindet – und er verneinte. Selina ist sogenannte Synästhetikerin. Sie nimmt die Welt völlig anders wahr als ihr Umfeld.

Synästhesie ist ein Phänomen, bei dem Wahrnehmungen einander überschneiden. Die aufgenommenen Reize gelangen nicht beispielsweise vom Auge direkt zur Zielregion im Hirn. Die Nervenbindungen stupsen auf ihrem Weg mehrere Hirnregionen an und erzeugen eine Mit-Wahrnehmung. Aus einem Reiz wird so im Gehirn ein Gemisch unterschiedlicher Eindrücke. Lange wurde das Phänomen als pure Einbildung abgestempelt. Mittlerweile haben Forscher mittels Gehirnstrommessungen das Gegenteil bewiesen.

Welche Sinne wie verknüpft werden, ist bei jedem Synästhetiker verschieden

Welche Sinne wie verknüpft werden, ist bei jedem Synästhetiker verschieden. Für den einen schmeckt Spanisch nach Fleisch, für den anderen riecht Laub magenta, das M ist tiefblau oder Klavierklänge ziehen gelbe Kreise. Selina fühlt Formen und Farben von Dingen und Menschen. Außerdem sieht sie magnetische Felder in Schlieren „wie wenn die Sonne auf die Asphaltstraße brennt“. „Sehen“ ist dabei eher als eine Mischung aus Empfinden und Projizieren zu verstehen. #

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„Hauptsächlich sehe ich die Farben von Menschen“, sagt sie. Jede Person habe eine Farbe und Form, die anders ist als ihr Aussehen. Sie selbst ist hellgrün mit weißen Tupfen, ihr Sohn gelb-orange mit Streifen. Auch Erfahrungen und abstrakte Konzepte empfindet sie geometrisch: „Die Sprache Deutsch zum Beispiel hat für mich schwarze Kreise mit etwas Violett, Englisch ist dunkelgrün und dunkelblau“, sagt die 21-Jährige, die ihre komplette Identität nicht in der Zeitung preisgeben möchte. „Die Woche ist nach unten gewölbt und braun, Samstag ist hellblau und Sonntag lila“, sagt sie.

Lacht jemand, dann erscheint auf ihrem „Tickertape“ ein Hahaha

Wie vergleichsweise viele Synästhetiker hat Selina zudem ein „Tickertape“. „Wenn jemand spricht, sehe ich die Wörter in einem Schriftband durchlaufen, wie bei einer Nachrichtensendung.“ Lacht jemand, dann erscheint auf ihrem „Tickertape“ ein Hahaha, „außer wenn Leute so quietschig lachen, dann ist es eher ein Hihihi“, sagt die Hallenserin. Denkt sie an jemanden, erscheint ihr nicht das Gesicht der Person, sondern deren Name in schwarzen Buchstaben. „Buchstaben und Zahlen sind immer schwarz, allerdings sind für mich die 2, 4 und 7 gleich. Irgendwie verwandt, wie Lila und Rosa verwandt sind“, so die junge Mutter. Und wenn sie lese, dann leuchte die Zeile, in der sie gerade ist.

Wie verrückt das alles klingt, sagt sie immer wieder. Weil sie dachte, sie halluziniere, war die Hallenserin schon mehrfach in der Psychiatrie. Vor kurzem diagnostizierte eine Ärztin Synästhesie. „Ich bin froh, zu wissen, dass ich nicht verrückt bin“, sagt sie. In Online-Foren tauscht sie sich aus „mit anderen wie mir“. Das Phänomen ist kein Störfaktor und muss nicht behandelt werden, „für mich ist es eine Bereicherung“, sagt Selina.

Synästhetiker sind häufig besonders kreativ und sensibel

Nur hin und wieder werde ihr das ständige Feuerwerk zu viel. „Zu Festivals oder Konzerten gehe ich deshalb nicht“, sagt sie. Und manchmal im Sommer, da würde das Hochhaus, in dem sie wohnt, mit all seinen bunten Bewohnern so hell leuchten, dass sie die Augen zusammenkneifen muss.

Synästhetiker sind dazu häufig besonders kreativ und sensibel. Zudem besitzen sie eine „verstärkte Intuition“, wie Synästhesie-Experte Markus Zedler von der Medizinischen Hochschule Hannover es nennt. Heute geht man davon aus, dass unter 1.000 Menschen mindestens ein Synästhetiker ist. Etwa 85 Prozent sind Frauen. Die Ursachen und Auslöser für Synästhesie sind umstritten. Es könnte angeboren sein und sich im Kindesalter ausprägen. Die Tatsache, dass Synästhetiker oft einen anderen Synästhetiker in der Familie haben, lässt zumindest Spekulationen zu, dass das Erbgut verantwortlich ist. Möglich, dass Selinas Sohn die Welt genau so farbenfroh sieht, wie seine Mutter. (mz)