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Seit 60 Jahren ist der Gang in die Stadtbibliothek ein Ritual

Von CLAUDIA CRODEL 10.12.2008, 19:55

HALLE/MZ. - Die beiden sind schon über 70 Jahre alt. Und eigentlich sind sie reif für eine "Ehrenmitgliedschaft" in der Stadtbibliothek, denn Ursula Jahn ist bereits seit 60 Jahren begeisterte Bibliotheksnutzerin, ihr Mann bringt es immerhin auf ein halbes Jahrhundert.

Ursula Jahn erinnert sich: "Im Jahr 1948 ist meine Familie in die Hackebornstraße gezogen." Das häusliche Bücherregal der Eltern hatte solche Bücher wie "Goldköpfchen" oder Romane von Hedwig Courts-Mahler zu bieten. "So etwas wollte ich nicht lesen", meint sie. Der Vater unterstützte die damals Zehnjährige bei ihren Leseinteressen und meldete sich und seine Tochter in der Bibliothek am Salzgrafenplatz an.

"Ich weiß noch, wie die Bücherei damals aufgebaut war: Im Erdgeschoss gab es die Ausleihe für Kinderbücher und in der ersten Etage war die Erwachsenenbibliothek", blickt Ursula Jahn zurück. "Damals durfte man nicht mehr als drei Bücher auf einmal ausleihen." Deshalb ging sie umso häufiger mit einer kleinen Tasche über den Hallmarkt in die Bücherei, um sich mit Lesestoff einzudecken. Welche Bücher sie damals alles gelesen hat, weiß sie allerdings nicht mehr genau.

Als Ursula Jahn nach ihrer Heirat in die Frohe Zukunft zog, wechselte sie zur Zweigbücherei in der Paracelsusstraße. "Manchmal sind wir aber auch an den Hallmarkt gefahren, um uns Schallplatten auszuleihen", erzählt Wilfried Jahn. "Damals hatten wir noch keine Ahnung von klassischer Musik. Die Mitarbeiterinnen der Musikbibliothek haben uns sehr viel darüber erklärt und viele Musikempfehlungen gegeben", denkt er gern an diese Zeit zurück.

Nach der Wende wurde die Bücherei in der Paracelsusstraße geschlossen. Die Jahns waren froh, als der Bücherbus in der Frohen Zukunft Halt machte. Sechs bis acht Bücher leihen sie dort pro Monat aus. Manchmal bestellen sie auch einen Titel, von dem sie aus der Zeitung erfahren haben. Ursula Jahn liest gern Frauenromane und Krimis. Wilfried Jahn bevorzugt Bücher mit politischen und geschichtlichen Themen. Gelesen wird übrigens fast täglich in der Mittagszeit und abends vor dem Schlafengehen.

Mit großer Bestürzung hat Familie Jahn die Einsparungspläne der Stadt aufgenommen, die Zweigbüchereien zu schließen und auch die Fahrbibliothek abzuschaffen. "Das träfe uns hart. In unserem Alter ist der Weg von der Frohen Zukunft bis zu Hauptbibliothek am Salzgrafenplatz sehr beschwerlich", sagt der 79-jährige Wilfried Jahn. Doch nicht nur für sich sehen sie die Nachteile. "Auch viele Schüler und Jugendliche nutzen die Fahrbibliothek in der Frohen Zukunft. Das sollte man unbedingt in Betracht ziehen oder sollten wir bald sagen: Pisa ade?", gibt Ursula Jahn zu bedenken.